Samstag, 26. Oktober 2013

»Die ersten Photographien des Stadtbilds vom Stephansturm verdanken wir einem gewissen Leopold Weiß«

... schreibt Heinz Piontek über Wien in seinem Buch »Helle Tage anderswo. Reisebilder« auf Seite 131, und kommentiert noch: »... es muß zudem ein glasklarer Tag gewesen sein.«

Eine zurückhaltende, glasklare Prosa. Ich zitierte daraus zu gegebenem Anlaß unlängst frei aus dem Gedächtnis. Freilich: exakte Zitate sind dabei Glückssache (außer bei Schiller, natürlich: die kennt man wortwörtlich, auch die banalsten — wenigstens bis zu meiner Generation). Nun habe ich das Buch wieder aus meiner Bibliothek gekramt, und blättere ... fast sakrilegisch mutet es an, wenn Piontek da (auf dem Flohmarkt oder im Antiquariat?) Photos miteinander vergleicht und in zwei Absätzen die von Huren und von einem Kaiser — vom Kaiser κατ εξοχήν natürlich — nebeneinanderstellt:
Aus einem Album mit Wiener »Callgirls« (um 1870) gab es noch über ein Dutzend Aufnahmen. Liebesdienerinnen aller Schattierungen ritten angestrengt auf Stühlen und Tischen, um uns Betrachtern Schauer über die Haut zu jagen. Ihre Beine waren die Hauptsache. Sie boten sie an wie warme Semmeln, mit und ohne Strumpfbänder, in enggeschnürten Stiefelchen, über die das Fleisch quoll, bis zu dem Punkt, wo Beine keine Beine mehr sind. Gleich nach der Schau der Extremitäten kam der sagenhafte Aufputz ihrer Roben und Negligés; die lächerlichen, lieben, tierhaften, ausweglosen Gesichter entdeckte man erst ganz zum Schluß. So also sahen die Wunschbilder unserer Urgroßväter aus.


Merkwürdig, daß der immer wieder gescheiterte Franz Joseph von seinem Volk vergöttert worden war. Warum hatte das Volk, sonst doch nur für die Sieger, die Glücksritter schwärmend, ausgerechnet an diese Gestalt sein Herz gehängt? Von den Photos des Kaisers strahlte nichts aus, was einen Fingerzeig hätte geben, die außergewöhnliche Liebe erklären können. Ein ordensgeschmückter alter Herr, die Plagen eines langen Lebens in den Schattengruben des Gesichts. Einer ohne Fortün und doch ausgezeichnet durch ein einzigartiges Glück.
Gleich daran schließt er Impressionen eines Besuchs in Rohrau: »Unauffällig mitten in einer der Häuserzeilen das Geburtshaus Joseph Haydns. Hier also. Der Früheste unter den Großen ...« — und Piontek schreibt 1973 im Nachwort seines Buches:
Fremde als etwas Malerisches oder gar »Aufregendes« habe ich nie gesucht. Mir genügte das Ungewohnte, an dem ich meine Blicke und Sätze schärfen konnte. Das Auge braucht hin und wieder den offenen Raum. Sprachlicher Sensibilität tut eine frische, durchaus nicht immer schmerzlose Reizung gut. Freilich, auch das Sich-Wohlfühlen, die Freiheit vom täglichen Ballast, das Vergessen deutscher Arbeitswut gehört zu meinen Reisen.
Ein Außenseiter, zunehmend, in jener Zeit. Keiner, der im »politisierten Literaturbetrieb der Sechziger und Siebziger Jahre« (wie die Wikipedia in einem seltenen Anflug von Wahrheit formuliert) Gehör gefunden hätte bei den Kritikern und Meinungsmachern. Was wollte dieser »Naturlyriker«, was sollte man auch mit diesem »... Vertreter „reiner Poesie“, mangelnden gesellschaftlichen Engagements und von Eskapismus ...« anfangen? Dennoch ist die Liste seiner Auszeichnungen und Preise (damit Wikipedia doch zu etwas gut ist!) lang:
1985 erhielt er das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, 1992 den Bayerische Verdienstorden. Übliche Ehrungen, wie für einen hohen Beamten, beispielsweise des Museumsdienstes.

Die Leser hielten dem »Außenseiter« dennoch die Treue. Was er selbst als »Graphik in Prosa« bezeichnet hatte, verstanden sie offensichtlich besser als die Kritiker, die »engagierte« Literatur einfordern wollten, und nur zu gern vergaßen, daß der, der sich engagiert, sich nur zu leicht von jemandem engagieren läßt — als Mittel zum gesellschaftspolitischen Zweck. Doch verzweckte Kunst ist selten eine.

Heinz Piontek verstarb heute vor zehn Jahren im 78. Lebensjahr. Mehr als fünfzig Jahre davor, 1952, schrieb er, als junger Mann von siebenundzwanzig, das Gedicht
Die Furt

Schlinggewächs legt sich um Wade und Knie,
Dort ist die seichteste Stelle.
Wolken im Wasser, wie nahe sind sie!
Zögernder lispelt die Welle.
Waten und spähen - die Strömung bespült
Höher hinauf mir den Schenkel.
Nie hab ich so meinen Herzschlag gefühlt.
Sirrendes Mückengeplänkel.
Kaulquappenrudel zerstieben erschreckt,
Grundgeröll unter den Zehen.
Wie hier die Luft nach Verwesendem schmeckt!
Flutlichter kommen und gehen.
Endlose Furt, durch die Fährnis gelegt -
Werd ich das Ufer gewinnen?
Strauchelnd und zaudernd, vom Springfisch erregt
Such ich der Angst zu entrinnen.
Am 26. Oktober 2003, entronnen der Angst, hat er das Ufer gewonnen ...

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