Sonntag, 23. Oktober 2011

Der letzte DDR-Staatsratsvorsitzende

Prof. Dr. Manfred Gerlach ist am 17. Oktober 2011 im 84. Lebensjahr nach langer, schwerer Krankheit verstorben. »Der Spiegel« bringt eine leicht überarbeitete dpa-Meldung, die trotz ihrer Kürze manches Wesentliche erwähnt, und wegen ihrer Kürze viel Wesentliches verschweigt. Und einige (bewußte?) Desinformationen enthält — beispielsweise die, er hätte diesen Posten »bereits nach der ersten freien Wahl zur Volkskammer im März 1990 wieder räumen« müssen. Auch »Der Spiegel« verfügt wohl über ein Pressearchiv, und dort wäre unschwer nachzulesen gewesen, daß Gerlach ab der Übernahme des Vorsitzes im Dezember 1989 wiederholt erklärt hatte, daß er nur bis zu den ersten freien Wahlen für diesen Posten zur Verfügung stehe. Also von »räumen müssen« keine Rede. Auch die Darstellung
Zu DDR-Zeiten hatte der studierte Jurist stets betont, die LDPD wirke "ohne Wenn und Aber" für den Sozialismus. Im September 1989 war Gerlach dann aber der erste Spitzenpolitiker der die führende Rolle der SED in der DDR in Frage stellte. Damit versuchte er, sich als Reformpolitiker zu profilieren.
ist, gelinde ausgedrückt, an der Grenze zum Rufmord. Manfred Gerlach war zwar sicher kein Held oder gar Märtyrer des DDR-Widerstandes — aber ihn posthum zum Prototyp des Wendehalses zu machen, ist ebenso mies wie dokumentarisch widerlegbar. Vielmehr versuchte Gerlach schon Jahre vor 1989 — als die politischen »Eliten« der BRD noch quer über die Parteigrenzen hinweg Honecker den roten Teppich ausrollten — , eine an Gorbatschows »Perestroika« anknüpfende Umwandlung der politischen Verhältnisse in der DDR zu lancieren. Nur seltsamerweise: Gorbatschow pinkelt in Deutschland und seinen Medien kaum einer ans Bein ...

Seine 1991 erschienenen Erinnerungen »Mitverantwortlich. Als Liberaler im SED-Staat« sind eine, bei aller Vorsicht (die bei Autobiographien stets angebracht ist) mit Erkenntnisgewinn zu lesende Lektüre. Und wohl eine, die manch anderem, der — oder, und ganz speziell: die! — heute in Deutschland politisch das Sagen hat, weit eher den berechtigten Vorwurf der Wendehalsigkeit einträgt.

Gerlach als »liberal« zu bezeichnen, geht nur aus einem spezifischen Vor- und Fehlverständnis von Liberalität als Linksliberalismus, man könnte auch sagen: Liberalsozialismus. Aber auch damit stünde Gerlach damals wie heute nicht alleine. Leider. So fragwürdig aber auch seine Definition von Liberalismus sein mag, und so wenig er in der Lage war, selbst diese gegen die Machthaber der DDR (zu denen er wohl nicht, oder höchstens ganz am Rande, gehörte) durchzusetzen: man wird ihm konzedieren müssen, mit seinen Wortmeldungen vor und hinter den Kulissen mehr getan und gewagt zu haben, als viele, die sich damals aus einer sicheren Position in der BRD lieber mit dem SED-Apparat arrangierten, als »lästig« zu sein. Von jenen, die vom Stasispitzel zum überzeugten Demokraten mutierten, ganz abgesehen.

Daß er nach der Wende einer völligen damnatio memoriæ verfiel, hat ihn sicherlich, und zu Recht, gekränkt — und wohl dazu beigetragen, daß er sich von der FDP, in der die LDPD 1990 aufgegangen war, gedanklich immer mehr entfremdete, bis hin zu seinem Austritt im Jahr 1993. Ist es angesichts verschiedener Verdächtigungen und (sämtlich ohne Verurteilung eingestellter) Prozesse verwunderlich, daß er im höheren Alter dann immer mehr einer »DDR-Nostalgie« huldigte und im »Alternativen Geschichtsforum Berlin« eine andere als die offiziell kanonisierte Geschichte der DDR festhalten wollte?

Politik ist ein im nachhinein stets unbedanktes Geschäft. Wer — aus welchen Gründen immer — aus ihr verstoßen wurde, wird es mit Bitterkeit verspüren. Denn wie der einstige österreichische Wirtschaftsminister Robert Graf einmal zynisch bemerkte: »Wer in der Politik einen Freund sucht, sollte sich einen Hund halten«.

------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

P.S.: Wer wissen will, was eine adäquate Berichterstattung gewesen wäre, sollte den kurzen, aber informativen Nachrauf in der »New York Times« lesen. Ist es nicht beschämend, daß es eine New Yorker Zeitung ist, die ihre Leser über einen in Amerika längst vergessenen DDR-Politiker auf eine Weise informiert, zu der die angeblichen Qualitätsmedien in Deutschland wie »Spiegel« oder »Welt« entweder nicht fähig, oder nicht willens waren?

6 Kommentare:

Volker hat gesagt…

Man kriegt ja nicht alles mit. Aber als Ossi staune ich schon, dass Gerlach vor der Zeit was riskiert haben soll.

Es gab keine freien Medien. Aber es gab eine hohe Sensibilität für alles Politische. So wie man den Kühlschrank gar nicht so leise öffnen kann dass der Hund es nicht hört, blieb es nicht unbemerkt, wenn mal was Abweichendes passierte.
Gerlach wurde von uns als einer von den Alten wahrgenommen, der am wenigsten verkalkt war und deshalb als erster den Hals gedreht hat. Mehr nicht.

Lt. NY-Times studierte Gerlach „Staat und Recht“.
Das war die typische Funktionärsausbildung. Dort haben sich die 100%igen eingeschrieben. Und dort wurden nur die 100%igen reingelassen.
Für uns war Gerlach der Archetyp des Funktionärs. Und des Wendehalses.

Und dass irgendwelche Verfahren ohne Urteil beendet worden sind, sagt – gar nichts. Wurde eh kaum jemand verurteilt.
Kein Wunder, waren ja alles Unschuldslämmer.

Das ist kein Nachtreten gegen einen Toten. Und auch kein Nachtreten gegen einen Funktionär im zweiten Glied. Gerlach war ein intelligenter Mitläufer. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Das meine/unsere Wahrnehmung. Ob die so weit neben der Realität liegt?

----------------

Es ist richtig, dass den SPIEGEL-Redakteuren der Gang ins eigene Archiv verboten ist. Aber in diesem Fall halte ich den Artikel zwar für schlampig, aber nicht (wie sonst dort üblich) für verlogen oder agitatorisch.

Le Penseur hat gesagt…

@Volker:

Nun, was er "riskiert" hat, ist für Leute im Westen wohl schwer abzuschätzen. Sicherlich unter Honecker nicht Jahre in Bautzen, das ist schon klar. Wohl aber seine Position — und das ist mehr, als unsere p.t. Politiker heute riskieren wollen ...

Da gibt es einerseits den erst nach der Wende (wenig, aber doch) in die Öffentlichkeit gesickerten Versuch, einige Anmerkungen über die vorsichtige Umgestaltung des politischen und wirtschaftlichen Systems der DDR zu veröffentlichen, die dazu führten, daß Honecker & Co. versuchten, Gerlach durch Agsten stürzen zu lassen (das ließen sie dann wohl, weil es gegenüber dem Westen wohl zu peinlich gewesen wäre, einen langjährigen Bundesgenossen auf einmal in die Wüste zu schicken).

Und dann seine Rede in Bezug auf die Vorfälle an der Carl-von-Ossietzky-Schule. Die brachte ihn zwar nicht in ernstliche Gefahr — nur alle anderen brachten sich sicherheitshalber noch viel weniger in Gefahr, indem sie einfach schwiegen ...

Wie gesagt: ich halte Gerlach keineswegs für einen Helden (und er selbst meint das übrigens in seinem Buch ebenfalls). Aber unter den vielen Mitläufern in der DDR scheint er mir einer der relativ eigenwilligsten gewesen zu sein. Und für Eigenwilligkeit habe ich halt ein liking ...

Die Anmerkung hat gesagt…

Ich finde die Klarstellung seitens des Autors gut. Mitläuferschaft ist weder Verbrechen, noch Vergehen oder sonstwas, sondern Lebensgrundlage von 90% aller Menschen. Man paßt sich den jeweiligen Gegebenheiten an und schwimmt im Strom aller mit. Auf welche Ebene einer Gesellschaft das passiert, ist erst mal egal.

Das ist heute nicht anders. Man richtet sich ein und sieht zu, wie man klar kommt. Der Mut, nehmen wir mal als Beispiel, eines CDU-Abgeordneten, sich mit der Merkel anzulegen, der hält sich arg in Grenzen. Und wenn ja, werden sie weich weggebissen. Das weiß jeder, hält seine Klappe und wurstelt weiter.

Volker hat gesagt…

@Anmerkung
Ich habe nichts gegen Mitläuferschaft gesagt.
Es stinkt mir nur, dass nach dem Fall der SED sich die Blockparteien (besonders eklig hat sich die SED-Nachfolgepartei in dieser Hinsicht hervorgetan) entweder als Widerstandsbewegung oder als Opfer gerierten.
Das waren die nämlich nicht.

Die wenigen Widerständler in diesen Parteien wurden schon in den 50ern ausgesondert.
Und allein durch Mitläufertum wurde keiner Parteivorsitzender (um es mal zurückhaltend auszudrücken).
Es wurde jedenfalls keiner gezwungen „Staat und Recht“ zu studieren. Und man konnte auch ganz gut überleben, ohne Parteivorsitzender zu sein. Keine Widerworte geben und bei der ErsteMaiDemo mitlatschen hat in den meisten Fällen schon gereicht.
Bern Zeller hat dazu mal was gute über die Überlegenheit des Westsozialismus über den Ostsozialismus geschrieben.

Misanthrop hat gesagt…

"Mitläuferschaft ist weder Verbrechen, noch Vergehen oder sonstwas, sondern Lebensgrundlage von 90% aller Menschen."

Und deshalb laufen dann auch 90% aller Menschen bei jeder Blödheit und jedem staatlichen Verbrechen mit, wenn es die Lebensgrundlage bzw. das eigene Fortkommen zu sichern scheint. Denn bekanntlich kommt erst das Fressen und dann die Moral.

"Worum geht's im Leben? Um's Überleben!" Überleben um jeden Preis. Fressen oder gefressen werden. Eine simple und abscheuliche Wahrheit. Also ich find das zum Speiben. Auch wenn es eine fundamentale Naturkraft ist. Aber an Begriffe wie Kultur und Zivilisation stelle ich höhere Anforderungen als rücksichtsloses, erbärmliches Mitläufertum. Jeder ist verantwortlich für das, was er tut. Mitläufertum ist die höchst bequeme Abschiebung der Verantwortung - "aber die anderen tun's ja auch"

Anonym hat gesagt…

@ Volker: Sei gepriesen für deine Worte. Einem gewissen LDPD-Heini verdanke ich es, mich mit einem Diplom statt mit einer anständigen Promotion fürderhin durchs feindliche Leben (Schiller) schlagen zu müssen - es ging um Umschmutzverwelkung. Meinem geschätzten Doktorvater (Chemiker, und immerhin schon promoviert, nicht wie Germar Rudolph mit Zyaniden im Gemäuer, sondern mit Schwermetallen in Gewässern befaßt) hat er die Habilitierung vermanscht. Und ihn zum Diplomvater degradiert.
-Hildesvin-