Dienstag, 2. März 2010

Wozu abhören, wenn man Computeranalysen hat?

Als seinerzeit in Deutschland die Vorratsdatenspeicherung eingeführt wurde, meinten ihre Befürworter abwiegelnd, daß das alles ja keineswegs so schlimm sei, denn die Gesprächsinhalte würden ja nicht abgehört, nur die Verbindungsdaten: wer, mit wem, von wo, wohin. Das könne doch ohne konkreten Tatverdacht ganz unbesorgt bespeichert werden. Und werde ohnehin nur sechs Monate lang aufbewahrt. Und es gab genug, die sich davon einlullen ließen. Nichts dagegen, ich habe doch ohnehin nichts zu verbergen ...

Diesen gutgläubigen Menschen wird nun durch einen Artikel von Frank Rieger auf FAZ.net gehörig die Naivität geraubt.
Sechs Monate sind eine lange Zeit. Die meisten Freunde, Verwandten, Geschäftspartner und Bekannten kontaktieren wir in dieser Frist wenigstens einmal. Mit Menschen, die in unserem Leben wichtig sind, kommunizieren wir innerhalb eines halben Jahres gar Hunderte Male. Dieses Verhalten liefert einem Auswertungsalgorithmus erste Anhaltspunkte, um unser Leben digital zu rekonstruieren. Die Art und Weise, wie aus algorithmischer Sicht Telefonkontakte verarbeitet werden, kann man sich graphisch als ein Spinnennetz vorstellen, in dem die einzelnen Personen, Firmen oder Anschlüsse die Knotenpunkte sind.

Die Fäden im Spinnennetz sind Pfeile, welche die Kommunikationsrichtung zwischen den Knoten aufzeigen. Im nächsten Schritt wird die Anzahl der Anrufe, E-Mails und SMS gezählt, die zwischen der Zielperson und jedem einzelnen Kommunikationspartner ausgetauscht wird. Je häufiger der Kontakt, desto breiter die Spinnenfäden. Die sogenannte Gewichtung der Kontakte, abhängig vom Auswertungszweck, offenbart weitere Einsichten. Jemand, mit dem man nachts um drei eine Stunde lang telefoniert, ist vielleicht interessanter als jemand, mit dem man primär zu Geschäftszeiten kurze Telefonate und E-Mails austauscht. Andere Gewichtungskriterien können Orte oder Zeiträume sein. Es entsteht ein anschau-liches soziales Bild, mit wem eine Zielperson wie eng verbunden ist.
Rieger nimmt das Beispiel einer Protestgruppe von Milchbauern her. Wer würde denn das legale, grundrechtlich gewährleistete Demonstrationsrecht beschneiden wollen? Aber der Staat doch nicht! Wir sind doch alle-alle-alle-Demokraten, weil wir so brav sind, weil wir so brav sind ... (es darf geschunkelt werden). Nur:
Wie der typische Informationsfluss innerhalb eines sozialen Gefüges abläuft, lässt sich automatisiert an der zeitlichen Abfolge von Gesprächen ersehen. Üblich ist dazu die Auswahl einer Nachricht oder eines Ereignisses, das für viele der Erfassten von Interesse ist. Wie bei einem Stein, der in einen stillen Teich geworfen wird, schaut man zu, wie die Informationswellen ihren Weg nehmen. Eine Verfügung etwa, die eine Demonstration untersagt, wird dazu führen, dass es hektische Telefonate und SMS zwischen den Milchbauernprotestlern gibt. Durch algorithmische Auswertung, wer zuerst mit wem telefoniert, wer mit den meisten anderen spricht und wie schnell und wohin sich die schlechte Nachricht verbreitet, wird die Macht- und Informationsstruktur der Gruppe auf Knopfdruck offenbart. Auch ohne Kenntnis der Gesprächs- oder Nachrichteninhalte - die nur durch Hineinhören zu erlangen wäre - lässt sich allein aus dem zeitlichen Kontext und der Reihenfolge des Kommunikationsflusses eine hohe Informationsgüte extrahieren, nahezu vollautomatisch.
Und schließlich (worauf man meist zu vergessen pflegt):
Die drastische Verbilligung der Mobilfunktechnik führt dazu, dass sie in immer mehr Alltagsgeräten zu finden ist. Vom Amazon Kindle über das iPad, Navigationsgeräte, tragbare EKGs und Insulinpumpen bis hin zu aktuellen Oberklasse-autos, überall sind kleine Funkmodems eingebaut, die neue Bücher, Musik, Medizin- oder Kartendaten übertragen. Im Falle des vernetzten Autos werden auch Wartungsinformationen gesendet und empfangen, automatische Hilferufe bei einem Unfall oder Kommandos aus der Zentrale, um das Auto bei Diebstahl oder Vergesslichkeit wiederzufinden oder den darin vergessenen Schlüssel zu befreien. Immer mehr Dienste im Alltag werden überdies mit Mobiltelefonen bedienbar. Von der Auto- oder Fahrradmiete über Fahrkarten- und Parkscheinautomaten bis zur Zugangskontrolle im Swingerclub reicht mittlerweile die stetig wachsende Palette. All diese kleinen Nützlichkeiten addieren sich zu einer beachtlichen Anzahl spurenziehender Geräte pro Person, die auch ganz ohne bewusste Kommunikation das Leben vollautomatisiert nachzeichnen.
Gläserne Menschen also, die man jederzeit durch gezielten Zugriff auf Unmengen von Daten berechenbar machen kann. Die man jederzeit durch selektives Herausgreifen einzelner Daten erpreßbar werden läßt. Deren künftiges Verhalten jederzeit beeinflußbar ist, indem man Kommunikationsknoten »abschaltet« — sei es rein digital (was technisch problemlos möglich ist), sei es, in hartnäckigeren Fällen, durch gezielte Verhaftungen, die jeder Haftrichter aufgrund der ihm vorgelegten (und penibel vorselektierten) Datenlage genehmigt.

Und wer war denn der große Vorkämpfer für die Voratsdatenspeichung in Deutschland? Es war jener famose Mensch, der jetzt gestohlene Bankdaten ankaufen läßt und auch zu künftigem Datenmißbrauch zum Nutzen der Staatskasse das Wort redet. Der seinerzeit die Unterstützer der Verfassungsbeschwerde mit dem Satz verhöhnte: »Wir hatten den 'größten Feldherrn aller Zeiten', den GröFaZ, und jetzt kommt die größte Verfassungsbeschwerde aller Zeiten«. Der im einem ZDF-Interview meinte, verdeckte Online-Durchsuchungen, Kommunikationsverbote im Internet oder mit dem Handy sowie der Einsatz der Bundeswehr im Inneren – das sei noch der freiheitliche Rechtsstaat mit seiner Pflicht zur Gewährleistung der inneren Sicherheit. Mit einem Wort: ein Mann von echtem Mielke-Schrot und Stasi-Korn! Vielleicht wird jetzt manchem klar, warum in Diskussionen oft Formulierungen wie »DDR 2.0« auftauchen.

Karlsruhe hat mit diesem Urteil ein mutiges Zeugnis für die Verteidigung der Grundrechte abgelegt. Ob es ausreichen wird, gegen eine korrupte, technokratische Herrscherkaste, oder auch nur gegen einen paranoiden Rollstuhlfahrer, der seine biographisch durchaus nachvoll-ziehbaren Neurosen über die Schaffung totalitärer Überwachungssysteme zu bewältigen versucht, steht freilich in den Sternen. Der BVerfG-Präsident Papier hat mit diesem Urteil jedenfalls erkennen lassen, daß Grundrechte in Deutschland nicht nur Papier sind. Doch, wie wir schon seit Ferdinand Lassalle wissen: Alle Verfassungsfragen sind Machtfragen.

Und die Macht ist eher in den politischen Zirkeln Berlins, als in den Gerichtssälen Karlsruhes daheim. Mag sein, daß dieser Schluß manchem zu pessimistisch erscheint. Doch, wie wir wissen: »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch«. Auch in diesem Falle. Leider.

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