Donnerstag, 19. Oktober 2023

Zur Erheiterung

von LePenseur


... sei folgendes Urteil eines Amtsrichters in Lübeck zitiert, welches LePenseur einem Referat des verehrlichen Dr.  Klaus Peter Krause entnahm. Doch zunächst die Sachverhaltsdarstellung in Krausen's Worten:

Nehmen wir einmal an: Sie sind mit ein paar Freunden am Strand. Es ist ein Strand an der Ostsee, der von Lübeck-Travemünde. Zusammengeführt hat sie ein geselliger Anlass, die Travemünder Segelwoche. Der Tag hat sich verdämmert, eine laue Sommernacht ihn abgelöst. Man plaudert, man fühlt sich wohl, man trinkt. Getrunkenes pflegt nach einer gewissen Zeit dem Drang wieder nach draußen schwerlich zu widerstehen. Wie dem Drang nachgeben? Was liegt näher, als das Wasserlassen dort zu vollziehen, wo Wasser ohnehin in Fülle schon vorhanden ist. Und so geschieht es dann auch. Einer der Freunde begibt sich ein paar Schritte fort und vertraut sein Wasser dem Ostseewasser an.

Das Meer ist groß, das Meer ist weit – und sehr aufnahmefähig und die Gefahr, es könne durch die zusätzliche Anreicherung über seine Ufer treten, ziemlich gering. Es geht auf Mitternacht zu. Zufälliger- wie unglücklicherweise läuft dort zur gleichen Zeit Personal des Lübecker Ordnungsamtes herum. Es beobachtet das Geschehen, das wegen der Dunkelheit zunächst nur schemenhaft wahrzunehmen ist, und vermag es daher erst mittels Taschenlampe dem Schutz der Dunkelheit zu entreißen. Die (insgesamt drei) Ordnungshüter beurteilen die Entwässerung – vielleicht ist unter ihnen zumindest eine empfindsame Frau – als unsittlich und notieren die Tat als Verstoß gegen die öffentliche Ordnung. Einige Zeit später folgt ein Bußgeldbescheid über 60 Euro. Es zu zahlen, verweigert der Täter. Das Verfahren landet vor Gericht.

Als habe dem Richter das Urteil so richtig Spaß gemacht

Was man sich zunächst nur auszudenken vermag, wird gelegentlich von der Wirklichkeit eingeholt. Das scheinbar nur Ausgedachte hat sich aber genau so abgespielt. Doch die nach Ansicht des hansestädtischen Ordnungsamtes verübte Untat stieß auf einen Richter, der sich, so meint man beim Lesen seines Urteils zu spüren, wegen der Belanglosigkeit des Vergehens das Vergnügen am Formulieren des Urteils und ein Dauer-grinsen nicht verkneifen konnte. Er sprach den Übeltäter frei und formulierte Sachverhalt und Begründung des Urteils (Aktenzeichen: 83a OWi 739 Js 4140/23 jug), als habe ihm das so richtig Spaß gemacht, nämlich so:
 

Tenor

Der Betroffene wird freigesprochen.

Die Kosten und notwendigen Auslagen des Betroffenen trägt die Staatskasse.

Gründe

Der Betroffene ist aus tatsächlichen Gründen freizusprechen.

Die H.-Stadt L. wirft ihm vor, am 30.07.2022 gegen 00:36 Uhr in T. am Spülsaum der Ostsee mit dem Rücken zum Strand stehend in Richtung Wasser uriniert zu haben. Sie hat gegen ihn wegen Belästigung der Allgemeinheit nach § 118 OWiG mit Bußgeldbescheid vom 21.10.2022 eine Geldbuße von 60,- Euro verhängt

Zwar konnte der Vorgang als solcher nach der geständigen Einlassung des Betroffenen und den drei Zeugen des Ordnungsamtes bestätigt werden. Indes konnten keine weitergehenden Feststellungen dazu getroffen werden, dass die Art der Verrichtung nach den Umständen des Einzelfalles eine Belästigung darstellte.

Der Betroffene hat sich dahin eingelassen, dass selbst zu seinem am Strand sitzenden Freundeskreis ein Abstand von etwa 20 Metern bestanden habe, auch Spaziergänger seien zu dieser Uhrzeit zu seiner Wahrnehmung trotz T. Woche im Spülsaum nicht mehr unterwegs gewesen. Soweit der Ordnungsdienst angibt, unweit neben ihm eine weitere Person wegen eines gleichgelagerten Vorgangs aufgenommen zu haben, so meint er, dass dies wohl tatsächlich so gewesen sei, er diese Person jedoch vorher wegen der Dunkelheit nicht bemerkt habe. Erst durch das Einschreiten der Ordnungsamtsmitarbeiter sei er darauf aufmerksam geworden, da diese die Szenerie von hinten beleuchtet und auch diese Person angesprochen habe.

Auch durch die Vernehmung der Zeugen des Ordnungsamtes hat sich kein Hinweis darauf ergeben, dass die Verrichtung des Betroffenen nach Art, Ort und Umständen zu Belästigungen geeignet gewesen wäre. So konnten insbesondere keine belastbaren Feststellungen dazu getroffen werden, dass der Betroffene bei Dunkelheit oder im Restlicht der Uferbeleuchtung mehr als allenfalls schemenhaft für Dritte sichtbar war. Die Zeugen selber haben den Vorgang unter Annäherung an den Betroffenen und Verwendung von Taschenlampen aufgeklärt und dokumentiert.

Ferner hatten sich gegenüber den Ordnungsamtsmitarbeitern keine Personen über derartige Ver-richtungen im Spülsaum beschwert. Die Ordnungsamtsmitarbeiter sind nach Entdeckung des Vorgangs auch nicht sofort eingeschritten, sondern haben der Angelegenheit ihren Lauf gelassen, bis der Betrof-fene seine Bekleidung wieder gerichtet und sich ihnen zugewandt hatte.

Die verbliebenen tatsächlichen Feststellungen rechtfertigen die Annahme einer Belästigung der Allgemeinheit nach § 118 OWiG nicht. Danach handelt ordnungswidrig, wer eine grob ungehörige Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen. Bereits die Voraussetzungen einer grob ungehörigen Handlung können nicht festgestellt werden. Dies setzt eine Handlung voraus, die sich nicht in die für ein gedeih-liches Zusammenleben der jeweiligen Rechtsordnung erforderliche Ordnung einfügt, im deutlichen Widerspruch zur Gemeinschaftsordnung steht und derart gegen anerkannte Regeln von Sitte, Anstand und Ordnung verstößt, dass dadurch eine unmittelbare psychische oder physische Belästigung der Allgemeinheit in Betracht kommt (Karlsruher Kommentar zum OWiG, 4. Auflage, § 118, Rn 6 mwN). Dabei sind die Umstände des Einzelfalls zu beachten und der stete gesellschaftliche Wandel zu Fragen des gedeihlichen Miteinanders.

Der Vorgang des Wasserlassens unter freiem Himmel außerhalb von Bedürfnisanstalten ist unter Beachtung üblicher Rücksichtnahmen und ohne Hinzutreten besonderer Umstände keine grob ungehörige Handlung in diesem Sinne. Die grobe Ungehörigkeit ergibt sich nicht aus der Eignung zur Verletzung des Schamgefühls (a) und nicht aus belästigenden Verunreinigungen oder belästigenden Gerüchen (b).

a) Das Verhalten des Betroffenen war nicht geeignet, das Schamgefühl zu verletzen. Auch wenn empirisch gefestigte Aussagen zur Haltung der Allgemeinheit in dieser Frage nicht zu erlangen sind, so lässt sich doch folgendes festhalten: Als Vorgang natürlich menschlichen Ursprungs wird er nach Geschlechtern getrennt in öffentlichen Bedürfnisanstalten nach Belegung und baulichen Vorrichtungen auch in Gesellschaft verrichtet. Bei Sanitäreinrichtungen für Männer findet dabei unter anderem an durchgehenden Pissoirs, an Rinnen oder sonstigen offenen Abtritten auch das gesellige Wasserlassen statt. Der Vorgang ist danach auch in Gesellschaft tendenziell eher nicht schambehaftet. Soweit Fragen der Scham beim Wasserlassen außerhalb von Bedürfnisanstalten insbesondere über Geschlechtergrenzen hinweg berührt sein können, entspricht es der Üblichkeit, sich soweit als es die Umgebung zulässt, den Blicken anderer zu entziehen, sich zumindest aber abzuwenden und diskret zu verhalten. Eine gewisse Üblichkeit und Duldung ist hierfür etwa bei Wanderungen benennbar, bei Arbeiten in Feld und Flur, bei Jägern und Pilzesammlern, Radsportlner und Radtourlern, Badenden an Seen und Flüssen und bei sonstigen naturnahen Beschäftigungen. Dass es am Spülsaum der Ostsee landschaftlich anders als in Bergen und an Waldrändern keine weiteren Möglichkeiten zum landschaftlichen Rückzug gegeben hat außer der Abkehr, kann dem Betroffenen dabei nicht zum Nachteil gereichen. So ist es halt an der Küste. Im Übrigen konnte der Betroffene sich auch dem Schutz der Dunkelheit anvertrauen. Selbst wenn er im Dämmerlicht der Uferbeleuchtung noch schemenhaft zu erkennen war, musste er nicht damit rechnen, unvermittelt mit Taschenlampen ausgeleuchtet und gezielt kontaktiert zu werden.

Neben diesen Erwägungen sprechen auch die in der Rechtsprechung zu § 118 OWiG vereinzelt angeführten Indizien der Umstände des Einzelfalls dafür, dass die Handlung des Betroffenen nicht als grobe Ungehörigkeit zu qualifizieren ist. So soll es indizielle Wirkung haben, ob Zeugen eines fraglichen Ereignisses es hinnehmen oder sich darüber beschweren, ferner ob Anwesende sich zur sofortigen Unterbindung veranlasst sehen oder ein geordnete Einschreiten abwarten. Nach den obigen Feststellungen hatte sich niemand über den Vorgang beschwert. Auch haben die Zeugen nicht sofort interveniert, sondern gewartet, bis der Betroffene nach bürgerlichen Maßstäben wieder ansprechbar war.

(b) Eine belästigende Verschmutzung oder Geruchsbeeinträchtigung ist nicht eingetreten. Die Ostsee enthält eine Wassermenge von 21.631 Kubikkilometern Brackwasser. Der Verdünnungsgrad wäre selbst im Wiederholungs- oder Nachahmungsfall so hoch, dass eine belästigende Verschmutzung oder Geruchsbeeinträchtigung ausgeschlossen ist.

Sonstige Ordnungswidrigkeitentatbestände nach § 103 Wasserhaushaltsgesetz und § 69 Kreislaufwirt-schaftsgesetz sind nicht erfüllt. Von der Darstellung wird abgesehen.

Nachdem als Anknüpfungspunkt einer Belästigung der Allgemeinheit das Schamgefühl, die Ver-unreinigung durch Rückstände oder die Belästigung durch Gerüche ausgeschlossen werden kann, ist das Verhalten des Betroffenen eine nach der allgemeinen Handlungsfreiheit des Artikel 2 Absatz 1 GG geschützte und letztendlich wohl auch naturrechtlich verankerte menschliche Willensbetätigung. Der Mensch hat unter den Weiten des Himmelszeltes nicht mindere Rechte als das Reh im Wald, der Hase auf dem Feld oder die Robbe im Spülsaum der Ostsee.

Gericht:AG Lübeck
Entscheidungsdatum:29.06.2023
Rechtskraft:ja
Aktenzeichen:83a OWi 739 Js 4140/23 jug.
Dokumenttyp:Urteil
 
-----
 
Seine Urteilsverkündung übertitelte Dr. Krause mit Chapeau, Herr Richter. Einer auch auf diesem Blog öfters gebrauchten Zustimmungsbekundung, der sich LePenseur hier aus vollem Herzen anschließen kann ...

2 Kommentare:

helmut-1 hat gesagt…

Ich danke von ganzem Herzen dem Penseur für diese Veröffentlichung der Urteilsbegründung!

Es geht nicht nur um den amüsanten Inhalt, mir gehts um viel mehr:

Solange man sich bei den deutschen Gerichten um derlei Dinge kümmert, kann man sicher sein, dass von Deutschland kein neuer Krieg ausgeht!

Deshalb, danke für diese Info, ich bin so richtig froh darüber!

SF- Leser hat gesagt…

Nun, ich weiß ja nicht, ob die drei Ordnungsamt Mitarbeiter eventuell wirklich peinlich oder sonstwie berührt waren, aber es könnte für die "erheiternde" Aktivität auch noch eine andere Erklärung geben:

Für die tatsächliche Erledigung ihrer ordnungsamtlichen Tätigkeiten zu später Tageszeit sollen / müssen die Mitarbeiter ja irgendwie einen Nachweis führen.
(Damit der Vorgesetze nicht meint, sie wären ja gar nicht auf Streife gewesen.)
Was ist da die einfachste und nachweisfeste Methode:
MAn schreibt eine Anzeige! Das, was man da anzeigt muß nur irgendwie begründbar sein und schon hat man einen Arbeitszeitnachweis. :-)

Grüße