Sonntag, 13. August 2017

Der Göttergleiche

Erinnerungen an einen Ferientag im Landhaus meiner Eltern … wie immer auf der Suche nach neuem Lesestoff, durchstöberte ich die Bibliothekskästen, wobei mir ein schon ziemlich ramponiertes, abgegriffenes Bändchen, billige Kartonage mit einem leicht verblichenen farbigen Titelbild auf dem Einbanddeckel — eine Husaren-Pelzmütze, einen Säbel samt Tasche darstellend — in die Hände kam: »Anton Mayer: Der Göttergleiche. Erinnerungen an Rudolf G. Binding«, las ich. Rudolf G. Binding …? Nie gehört. Ich blätterte darin, nur zwei Photos, ein nicht eben bedeutend aussehender junger Mann … aha, das war also dieser Anton Mayer, in schwarz-weiß abgedruckter, doch ersichtlich bunter Husarenuniform. Ich tippte auf Hellblau mit silbernen Tressen und Schnüren. Und daneben, der energisch auf den Betrachter zuschreitende Herr mittlerer Jahre — offenbar besagter Binding, an den der Autor erinnern will …

Ich blätterte kurz im Büchlein: irgendwelche Reitergeschichten auf den ersten Seiten, aus Anlaß irgendeines Manövers, zu dem Reserveoffiziere, darunter eben auch dieser Binding, einberufen worden waren. Na ja, mein Interesse hielt sich Grenzen ... Mein Vater, dem ich abends meinen Fund zeigte, nahm das Büchlein in die Hand, und blättere es ebenfalls durch, gelegentlich glitt ein Lächeln über sein Gesicht. Und gab es mir mit den Worten: »Das habe ich damals auf der Krim mitgehabt«, zurück. »Damals« hieß soviel wie: als Soldat im Rußlandfeldzug.

Ich kannte die Lesefreude und den Lektüre-Geschmack meines alten Herrn: der war wirklich nicht schlecht — Nietzsches »Zarathustra« bspw. war in seinem Tornister, und Jüngers »Marmorklippen«. Aus Anlaß eines Militärarrests wegen einer Nichtigkeit bat er um die Bibel als Lektüre (die zulässige Alternative wäre »Mein Kampf« gewesen), und las dann das ganze Alte Testament (das er als — wenigstens formell, wie man’s in Österreich halt so ist — »katholisch« Erzogener kaum kannte), in den paar Tagen hinter Gittern komplett durch. Der Offizier, der ihm den Arrest eingebrockt hatte, wurde dann übrigens von meinem Vater wegen seines schikanösen Verhaltens vor ein Militärgericht gebracht und durfte für einige Zeit in einer Strafkompanie amtieren. »In Rußland damals kein Vergnügen«, meinte mein Vater und zitierte süffisant C. F. Meyer: »Mein ist die Rache, spricht der Herr!« Wäre dieser Binding vielleicht also gar kein so schlechter Autor? Nun, gleichwie: die Sache geriet in Vergessenheit ...

Das nächste Mal begegnete mir Binding während meines Studiums, als unser alter Professor für Deutsche Rechtsgeschichte irgendwann diesen Namen in einer Vorlesung fallen ließ, und an unseren verständnislosen Gesichtern erkannte, daß wir damit nicht das Geringste anzufangen wußten. »Also, meine Damen«, er bemühte sich, das aknenarbige Gesicht in charmante Falten legend, die nicht allzu vielen Mädels — Rechtsgeschichte der Ottonen und Hohenstaufen fesselte Studentinnen offenbar noch weniger als ihre Kommilitonen — im Saal anzustrahlen: »Von der „Moselfahrt aus Liebeskummer“ werden Sie doch gehört haben!« Schweigen. Neuer Versuch: »… oder vielleicht kennen Sie seine „Reitvorschrift für eine Geliebte“?« Erheitertes Murmeln im Hörsaal und leicht anzügliches Gelächter, welches unser alter Professor, in Treu und Ehren ergraut mit seiner Ehefrau, und mit einer größeren Kinderschar (vier oder fünf) gesegnet, sich irgendwie nicht recht erklären konnte, und daher wieder kopfschüttelnd zu Guelfen und Ghibellinen zurückfand, von denen ausgehend er, wie auch immer, auf Binding gekommen war …

Diese Vorlesung brachte mich aber immerhin dazu, bei einem meiner häufigen Besuche in den Antiquariaten nach Büchern dieses Binding Ausschau zu halten, und nur wenige Tage später fand ich schon einige, die mir zu lächerlich geringem Preis fast »nachgeworfen« wurden. Eines davon, »Erlebtes Leben« schlug ich, einer schlechten Angewohnheit nachgebend, auf der letzten Seite auf, um einen Blick zu erhaschen, »wie’s ausgeht« … nicht ahnend, daß es sich dabei um Bindings Autobiographie handelte — und las mit zunehmender Ergriffenheit den letzten Absatz des Buches:
    Ich stand in meinem dreiundfünfzigsten Jahr als mein Vater starb. Ein halbes Jahrhundert lang hatten er und ich in gleichem Erdreich der Zeit und des Lebens gewurzelt wie zwei Bäume die, in verschiedenem Alter ausgesät, gleichen Stammes waren, dem gleichen Walde angehörten und einander nahe standen. Wenn die älteren Bäume fielen, wurde der Wald dennoch nicht jünger. Ein anderes Geschlecht stand urplötzlich an Stelle desjenigen das die Zeit unmerklich hinweggeführt hatte. Nun erlebte ich es an mir. Sehr spät ist es mir aufgegangen – nicht daß ich ein anderes Geschlecht war als er; das wußte auch er – sondern daß ich nun das Geschlecht war, in dessen Schatten schon ein nächstes aufwuchs und ich keines mehr über mir hatte. Jedes Geschlecht überschattet das jüngere langehin. Aber wenn der Schatten aufhört, gewahrt in der eigenen Sonne das jüngere daß es nun selber das nächste geworden ist, Platz zu machen, gleichviel ob früh oder spät. Ich war der nächste geworden.
Diese wenigen Zeilen zählen für mich bis heute zu den vollkommensten Buchschlüssen, die ich kenne! Viele Bücher, auch solche höchster Qualität und Kunstfertigkeit, lassen mich mit ihren letzten Sätzen etwas unzufrieden zurück: da wäre noch dies und das zu sagen gewesen, da versickert eine sich einstellende innere Bewegung irgendwie in der Dürre, mit der ein offenbar in seiner Inspiration erschöpfter Autor sein Werk nur endlich zu Ende bringen wollte …

Und dann noch eine Erinnerung vom Ende meiner Studienzeit: ich war mit meinen Eltern in den Sommerferien in Oberösterreich unterwegs, nahe Passau, und wir gerieten, durch einen Wegweiser neugierig gemacht, zu jenem damals ganz verwunschen in einem großen Obstgarten gelegenen Haus (eigentlich ein kleines Landschlößchen) des österreichischen Schriftstellers, Malers und Graphikers Alfred Kubin. Dessen alte Köchin, offenbar schon in Pension, die damals das in eine Art Museum umgewandelte Wohnhaus betreute und die (wenigen) Besucher durch die Zimmer führte, wies in Kubins Bibliothek auf ein Büchlein, die Erzählung »Das Peitschchen«, hin, welches Kubin illustriert hatte. Ich blätterte kurz darin: nun also ein drittes Mal Binding …

Heute werden längst auch Germanistik-Studenten in Verlegenheit kommen, wenn man sie über Binding befragt — aber wer fragte auch nur nach ihm? Binding ist »töter als tot«, wie so viele bis 1933 führende Schriftsteller durch »Kontakt-Kontamination« mit dem Dritten Reich verseucht und unberührbar geworden.

Unmittelbar nach dem Krieg war das noch anders: da wußte man auch Mut und Charakter von Nicht-Linken und Nicht-Emigranten noch zu würdigen. Und Mut und Charakter hatte dieser Binding zweifellos! 1935 dem Nazi-Innenminister Frick höchst förmlich den Vorschlag zu unterbreiten, den emigrierten Thomas Mann zum 60. Geburtstag durch Entsendung einer offiziellen Delegation der Preußischen Akademie der Dichtkunst nach Zürich, seinem damaligen Wohnsitz, als einen der bedeutendsten Schriftsteller Deutschlands zu würdigen, das erforderte Mut — jedenfalls bedeutend mehr Mut als den, mit dem ebendieser Thomas Mann sich in Briefen und Erinnerungen aus dem sicheren Exil über diesen Binding und seinen Vorschlag etwas verächtlich lustig machte.

Daß ihm durch seine Liebe zu einer »rassefremden« Frau — seine letzte Gefährtin, die von ihm besungene »nordische Kalypso« Elisabeth Jungmann —, über die er bis zu seinem schließlich doch überraschenden Tod im Sommer 1938 seine schützenden Hände zu halten imstande war, gleichzeitig diese Hände auch gebunden waren, allzu heftig auszuteilen gegen die Mächtigen, auf deren Wohlwollen er zwar nicht zur Propagierung der Werke angewiesen war (diese verkauften sich damals quasi »von selbst«!), wohl aber, um seine letzte Liebe zu schützen, erklärt sein Verhalten. Und wer dieses Motiv nicht als ein edles anerkennen will, verdient weit eher unsere Verachtung, als Beachtung.

Doch zurück zum Dichter, zum Schriftsteller Rudolf G. Binding, denn um diesen soll es aus dem Anlaß der sich heute zum 150. Male jährenden Geburt des Autors am 13. August 1867 vornehmlich gehen: Schriftsteller sind letztlich nach ihrem Werk, nicht nach ihren — tatsächlichen oder bloß unterstellten — »Gesinnungen« zu werten. Wer es andersrum hält, fördert ein mattes, heuchlerisches Mode- und Staatsliteratentum ad usum delphini, oder heute eher: ad usum propagandæ … (Ich halte bspw. Swinburn für ein ziemliches Charakterferkel, doch gedichtet hat er eben wie ein junger Gott! Und darauf kommt’s doch an …).

Nein, diesem Binding hat man’s wahrlich nicht an der Wiege gesungen, daß er einst als einer der anerkanntesten, beliebtesten Dichter Deutschlands sterben würde! Sohn eines Universitätsprofessors und großen Rechtsgelehrten, studierte er in der Tat (wenn auch mit geringer Begeisterung) Jura, brach vor dem Assessor ab, wechselte zur Medizin, die ihn aber auch nicht befriedigte, und war um die Jahrhundertwende ein bedeutender Rennreiter und international weithin anerkannter Pferdeexperte: »Sachverständiger Beurteiler und Kenner der englischen Vollblutzucht«, so lautete seine offizielle Berufsbezeichnung. Dichter? Nicht die Bohne! So verwundert es nicht, daß dieser junge Herr aus reichem Haus und Husaren-Leutnant Anton Mayer, der den damaligen Oberleutnant der Reserve Rudolf Binding in der Reiterkaserne von Grimma kennenlernte — bei allem Eindruck, den dessen Persönlichkeit auf ihn von Anfang an machte —, doch prima facie eine etwas »verkürzte« Meinung von dessen intellektuellen Fähigkeiten bekommen konnte, und das liest sich in Mayers (von mir leicht geraffter) Erinnerung wie folgt:
Im Kasinogarten der Grimmaer Königin-Husaren saßen einige Offiziere beim Frühstück. Der Vormittagsdienst was vorbei, die hellblauen silberverschnürten Attilas zeigten Staubspuren, und die Julisonne glänzte auf den schnellfließenden Wassern der Mulde, die den Rasen der heiteren Anlage bespülten. Jene behagliche Stimmung, die durch einen strahlenden Tag, die Aussicht auf einen dienstfreien Nachmittag und eine bekömmliche Mischung aus Mosel, Selters und Zitronensaft hervorgerufen wird, lag über uns; nur wenige und nicht allzu bedeutende Worte fielen.
„Die neuen Sommerleutnants haben sich vorhin beim Kommandeur gemeldet“, sagte der Adjudant nach längerer Pause und blinzelte durch den Rauch seiner Zigarette in das Sonnenlicht.
„So.“ Die Nachricht löste keine große Bewegung aus. In jedem Sommer gingen drei bis vier Gruppen Reserveoffiziere bei ihren Übungen durch das Regiment; man war als Aktiver an den Wechsel gewöhnt.
„Wer ist denn alles dabei?“ fragte die „Schecke“, der schlanke Leutnant Carl v.d.D., dem eine weiße Strähne im blonden Haar den Spitznamen verschafft und den Ruf eingetragen hatte, er besäße kein Ex- sondern ein Foxterrieur.
Alles ältere Oberleutnants, die sich zu einer gemeinsamen Übung verabredet haben. Der und der und der“ – Namen, die keine sonderliche Aufmerksamkeit erregten. Aber vor allem“ – der Adjutant lächelte – „der Göttergleiche.“
„Der Göttergleiche? Wer ist denn das?“
Kirsten blickte bedeutungsvoll in die Runde. „Rudolf Binding“, sagte er langsam, fast mit einer gewissen Andacht.
Fünf oder sechs Offiziere, deren ungebräunte Gesichter und etwas füllige Gestalten nicht ganz zu den knapp sitzenden Uniformen paßten, kamen, während wir uns erhoben, die in den Garten führenden Stufen herunter. Kirsten wandte den Kopf. „Wo ist denn …“ begann er. Aber er brauchte den Satz nicht zu beenden. Im Türrahmen, gegen den dunklen Hintergrund des Zimmers stand, daran war kein Zweifel – der Göttergleiche.
Es lag in der Tat über der Erscheinung Rudolf Bindings, der damals in der ersten Hälfte der Dreißiger stand, etwas ungemein Anziehendes, Fesselndes, das den seltsamen, dem homerischen Heldengedicht entnommenen Namen durchaus rechtfertigte. Er bewegte sich leichter, ungezwungener als die anderen; seine Gesten rundeten sich bildhaft, seine Stimme beherrschte alle Register vom hellen Kommandoklang bis zum liebens- würdigsten Gesprächston; er gehörte zu jenen Menschen, die nicht nur gehen, sondern auch schreiten können – wie oft sollten wir später aus Hellas’ heiligem Boden dazu Gelegenheit haben! –, die sich nicht einfach setzen, sondern „Platz zu nehmen“ vermögen

(Mayer, a.a.O., 7-10)
Später trafen die beiden, Leutnant Mayer abgerüstet, zum stud.phil. der Kunstgeschichte mutiert, sich in Berlin — und erkannten beim Abendessen im fashionablen Turfklub (im ersten Stock über dem Restaurant »Hiller«) in einem nachdenklichen Gespräch, das unversehens auf Kellers »Grünen Heinrich« geriet, um mit Bindings Worten (in Mayer Darstellung) zu sprechen:
»Wir haben uns beide im Regiment mit ausgezeichneter Hochachtung für vollkommen einwandfreie Nullen gehalten und machen jetzt plötzlich die überraschende Entdeckung, daß wir ganz andere Kerle sind! Ich war ja schon reichlich erstaunt, als ich hörte, daß Sie Kunstgeschichte studieren – und nun der ‚Grüne Heinrich’ … Ich denke, darauf trinken wir noch eine Pulle, nicht wahr? Haushofmeister – nochmal dieselbe! Hier stoobt’s!«
Dieses »Hier staubt es!« sollte die völlige innerliche Dürre und die Trockenheit in den Gläsern symbolisieren, und auch diese heiter-bacchantische Wendung war »typisch Binding«! Bei aller Gedanken- und Empfindungstiefe jener Unterhaltungen: es ist der weltläufige Vollblutexperte, der hier (Grandseigneur quasi in der Nebenrolle) spricht, noch nicht der Dichter! Noch lief sein Leben in gewohnten, wenn auch brüchig werdenden Erfolgsgeleisen, Binding heiratet 1907 erstmals — eine Cousine, die ihm seit Jugend vertraut ist, und deren praktischer Sinn sein bisheriges Leben »in den Tag hinein« mit einer stabilen, doch auch nüchternen Grundlage versieht, versehen soll. Doch nur zu bald sollte Binding diese Grundlage wanken fühlen!
    Ich näherte mich meinem vierzigsten Lebensjahr als mich das wegen seiner Unvermutetheit erschütterndste und unheimlichste Ereignis betraf, das je in mein Leben und in meinen Willen sich eingemischt hat.
Was mir begegnet ist weiß ich nicht. Unmerklich – in längerer Zeit – verlor ich die Zuverlässigkeit, fast das Bewußtsein meines Handelns, d.h. einzelnes, auch Unbedeutendes, war erschrecklich klar und belichtet, anderes, vielleicht Bedeutendes, völlig unbelichtet. Ich tat ganz gleichgültige Dinge zweimal – klingelte etwa einem Diener zweimal oder schrieb zweimal den gleichen Brief – was ich dann oft erschreckend im zweiten Tun gewahrte oder nicht gewahrte, und ebenso unterließ ich ohne es gewahr zu werden das Wichtigste […]
Mein Gehirn schmerzte oft sehr, daß ich stützen und ewig anders hätte lagern mögen; in meine Glieder war schmerz und Blei zerstreut; auch sah ich oft nicht mehr was ich sah, d.h. das Auge sah, aber ich vermochte in meiner Seele nicht zu sagen was es sah – oder erst nach großer Anstrengung und wie auf Umwegen. Schließlich gelang es mir nicht mehr nachzukommen. Die Dinge und Menschen schoben an mir vorüber und ich zwischen ihnen, wie auf einem Rangierbahnhof man zwischen langsamen, schnellen und stehenden Zügen nicht mehr weiß, ob man steht, langsam oder schnell geschoben wird, ob man sich vor- und rückwärts bewegt. […] Ich versank in einen Schlaf meines Willens: ich war mir nicht lieb, ich war mir nicht zuwider: ich war mir nichts. Ich wollte mir auch nichts sein. Es war schon recht so. Es war das Letzte was ich an mir wahrnahm.

(Erlebtes Leben)
Die Schilderung seines völligen Nervenzusammenbruchs trennt den früheren Reiter vom späteren Dichter. Durch eine mehrmonatige Nacht ging er in ein neues Leben, noch freilich mit mancher »Altlast« (uncharmant, aber wahr, dazu auch seine junge erste Gattin zu zählen!) befrachtet.

Anton Mayer lädt Binding zu einer Italienfahrt ein: hier erlebt er die Schätze und Denkmäler Italiens unmittelbar — und sie bringen ihm Genesung. Und über eine D’Annunzio-Übersetzung (ohne je wirklich Italienisch gelernt zu haben), die auf die begeisterte Zustimmung des italienischen Dichters stößt, öffnet sich für ihn das Tor zu eigenkünstlerischer Produktivität: Gedichte, kurze Erzählungen und Legenden entstehen. Eine Griechenlandfahrt mit Anton Mayer vertieft das künstlerische Erleben — und führt auf der Rückreise durch Italien zu einer Zufallsbegegnung mit einer Seelenverwandten, die Binding in den folgenden Jahren begleitet, bis sie sich 1922 aus seinem Leben zurückzuziehen beginnt — in seinen Werken nennt er sie »Joie«. Eine nicht unpikante ménage à trois, Binding ist ja noch immer — mehr, aber wohl nicht nur, auf dem Papier — verheiratet, bahnt sich an. »Binding und die Frauen«: ein dankbares Thema für Klatsch wie Psychologengeschwätz …

Die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg machen aus Binding einen erfolgreichen Novellenschreiber. »Der Opfergang« (der seine Wirrungen zwischen der Ehefrau — hier »Oktavia« genannt — und der Geliebten thematisiert) wird ein Bestseller, der bis zu seinem Tod (und darüber hinaus) in immer neuen Auflagen erscheint. Gedichtbände erscheinen und bezaubern die Leser (und v.a. Leserinnen!) durch ihren Wohlklang ebenso, wie durch ihre »edlen« Themen, die sie behandeln. Irgendwie »Gartenlaube«, so könnte man jetzt boshaft dazwischenwerfen. Nein: natürlich sticht einem der Niveauunterschied ins Auge, aber trotzdem: ganz von der Hand zu weisen ist der Einwand nicht.

Der Weltkrieg, den der Reiter — im zermürbenden Stellungs- und Grabenkampf wird nicht länger geritten, und die beginnende Motorisierung der Armeen ebenso wie die aufkommende Luftwaffe machen Kavallerieregimenter recht bald zu einem Anachronismus — als Offizier, als Adjutant in Gefechtsstäben etc. verbringt. Ein in seiner Ungeschminktheit überzeugender Bericht ist »Aus dem Kriege« (1925), »… das beredte Zeugnis«, wie ein Rezensent anmerkt, »eines Menschen des 19. Jahrhunderts, eines Gentleman, der plötzlich konfrontiert wird mit der schrecklichen Wirklichkeit seiner Zeit.« Mag auch die Tagebuchform Fiktion sein — der Inhalt spiegelt die Realität dieses in der Tat ersten »Weltkriegs« nur zu genau. Freilich sind die Folgerungen und Gedanken, die ein Binding daran knüpft, andere als bspw. die eines Ernst Jünger (der freilich eine gute Generation jünger ist als Binding), der von einer nationalen Revolution träumt, oder gar eines Remarque, den der Krieg zum linken Pazifisten macht. Ihnen gegenüber bleibt Binding dann irgendwie doch der Mann der 19. Jahrhunderts, dessen skeptischer Konservativismus aus dem Kriegserleben zwar gestählt (und durch die letztliche Niederlage in mancher Hinsicht »ent-täuscht«), doch deshalb nicht weniger zuchtvoll und selbstbeherrscht hervorgeht.

In den Zwanzigerjahren entwickelt sich Binding mit seinen Erzählungen zum Vorbild und Sprachrohr eines national gesinnten Bürgertums, das zwar den inneren Widersprüchen und hohlen Heucheleien des Wilhelminismus’ keineswegs nachtrauert, sich aber an der irgendwie heruntergekommen wirkenden Weimarer Republik — mit ihren permanenten Regierungskrisen und ihren schäbig und korrupt agierenden Politikern — stößt. Ehrung reiht sich an Ehrung, Die Werke Bindings erreichen ansehnliche Auflagen, seine Stimme wird gehört und geachtet.

Nachdem »Joie« sich zurückgezogen hatte, heiratete Binding ein zweites Mal; seine Frau Hedwig, mit der er einen Sohn hat, wird bis 1935 an seiner Seite stehen. In diesem Jahr zieht er mit Elisabeth Jungmann, die er als Privatsekretärin von Gerhart Hauptmann kennen- und liebengelernt hatte, an den Starnberger See, und verbringt dort die allzu wenigen, ihm noch vergönnten Jahre. Eine Ehe ist wegen der Rassengesetze nicht möglich; solange Binding lebt, schützt sie sein »Prominenten-Status« vor Verfolgung, nach seinem überraschenden Tod muß sie Deutschland fluchtartig verlassen.

Wie jeder Autor, der nicht in dem von den eher linksgestrickten Medien der Weimarer Zeit bevorzugten Fahrwasser des Hedonismus, der Dekadenz und des »Asphaltzynismus« mitschwamm (oft in einer merkwürdigen Naivität von einer unklaren Heilssehnsucht und Aufbruchsfreudigkeit begleitet, die in der Räterepublik Rußlands die messianische Botschaft der Zeit gefunden zu haben meinte), wurde Binding natürlich von den immer stärker, immer radikaler werdenden Rechtsparteien vereinnahmt: wohl durchaus gegen seinen Willen, denn es gibt aus dieser Zeit genug Briefbelege, daß ihm die Werbeschalmeien, insbesondere von Seiten der NSDAP, ziemlich lästig waren. Daß er seine Werke in einem »konservativ-nationalen«, aber eben »jüdischen« Verlag (Rütten & Loening) veröffentlichte, ist für seine Haltung ebenso bezeichnend wie manch offenes Wort, das in seiner Autobiographie »Erlebtes Leben« (1927) und v.a. im bereits erwähnten »Aus dem Kriege« zu lesen ist, das die Nazis sicherlich nicht mit Entzücken erfüllte. Denn die Haltung, daß einer für sich selbst nichts zu sein habe, damit ihm sein Volk alles werde — nein, dies vertrug sich nicht mit der durchaus elitären Weltsicht eines Herrenreiters und Bildungsbürgers! Daß ihn 1933 die Verantwortung seiner Stellung als führendes Mitglied der Akademie der Dichtkunst andere Schritte nahelegte als jenen, die bereits von Anfang an auf der schwarzen Liste der Nazis standen, kann nur einen ebenso geschichtsunkundigen wie völlig ideologievernagelten »Antifaschisten« verwundern. Und einem, der es sich angesichts seiner auch international durchaus vorhandenen Reputation als Dichter jederzeit hätte leisten können, in die Emigration zu gehen, nachträglich daraus den Vorwurf zu konstruieren, er hätte seinen verbürgten, wenn auch nicht immer erfolgreichen Einsatz für (aus rassischen wie aus politischen Gründen) Verfolgte doch besser lassen sollen, ist in seiner Niedrigkeit bestürzend.

Daß er nach Hitlers Machtübernahme seine »Antwort eines Deutschen an die Welt« (Gesammeltes Werk V, 273-283) geschrieben hat, eine Antwort auf Vorwürfe, Klagen des von ihm hochgeschätzten Romain Rolland, hat seinem Ansehen »in der Welt« sicherlich geschadet. Er wird es geahnt haben — und doch: wer hat diese paar Seiten denn überhaupt gelesen, der ihretwegen mit dem Autor heute ins Gericht geht? Liest man sie — sine ira et studio natürlich — so wird man manche Fehleinschätzung über den Charakter der Nazi-Regierung finden können, manches ganz anders beurteilt wünschen. Aber kein Wort, das ein Mann von Ehre und Anstand damals (!) nicht hätte schreiben dürfen. Aus der Sicht der Nachgeborenen spätere Entwicklungen nachträglich »vorherzusagen«, und dem Zeitgenossen seine mangelnde Prophetengabe vorzuhalten, ist lächerlich und anmaßend! Und einige Aussagen in dem kleinen Schriftchen muten geradezu visionär an, so wenn Binding über die Umwälzung, die sich in jenen Tagen vollzog, schreibt:
Deutschland – dieses Deutschland – ist geboren worden aus der wütenden Sehnsucht, aus der inneren Besessenheit, aus den blutigen Wehen, Deutschland zu   w o l l e n :   um jeden Preis, um den Preis jeden Untergangs.
Es fröstelt einen, wenn man das liest! Aber heißt dies, daß Binding Deutschlands Untergang ersehnte? Wohl eher das Gegenteil! … Nicht weniger will einen frösteln, wenn man im selben Band Bindings »Von Freiheit und Vaterland« (a.a.O., 381-388) liest, und darin den Satz findet:
Mein Sohn, wenn du nicht für die Freiheit wirst sterben können, so kannst du auch nicht für das Vaterland sterben. Wisse für ewig: Freiheit und Vaterland sind eines. Gehe Deutschland dahin, wenn es nicht so ist.
Und so ist es: Deutschland ging dahin — es ist längst Muttiland, statt Vaterland; und von Freiheit in Zeiten von Schäubles und Maasmännchen zu reden, hat einen kabarettistischen Beigeschmack.

Aus seinen zahlreichen Gedichten, die zu zitieren würdig wären, seien als Beispiele seiner Wortkunst ein frühes aus dem »Buch der Freundin« (1910/11), und dann sein letztes, aus seinem Todesjahr 1938, herausgegriffen:

Bild der Freundin

So schön bist du die mir das Herz bewegt,
Daß selbst der Quelle Spiegel welchen du befragt
Dein Ebenbild zurückzugeben nicht gewagt
    Und zitternd brach.

So lieblich du daß deiner Lieblichkeit
Selbst die Meduse hätt ein Lächeln nicht versagt,
Als ob durch deinen Zauber sei das Graun verjagt
    Das aus ihr sprach.

So edel du wie wenn selbst die Natur
Den Heimfall deines Wesens an den Staub nicht litte,
Die Schöpfung selbst für Unvergänglichkeiten stritte
    In deinem Bilde.

So freudig du auf Erden und glückmächtig
Daß Kraft und leuchtend Blühen folgen deinem Tritte
Und wo du schreitest ist’s als ob der Morgen schritte
    Durch die Gefilde.

Es war »Joie«, die er da besang, mit hinreißendem Wohlklang und inniger Empfindung. Und mit der für ihn charakteristischen Interpunktion — sollte man nicht besser sagen: »dem charakteristischen Mangel an Interpunktion«?

Es ist selten, daß eine »ultima vox« zugleich auch Summe der Vollendung ist. Bei Goethe war es so, mit der Vollendung des Faust II war auch sein Leben »erfüllt«, und er verstarb kurz darauf. Bei Binding war es zweierlei: das »Gesammelte Werk« in fünf Bänden erschien zum siebzigsten Geburtstag (1937) — und schließlich sein letztes Gedicht, mit dem auch dieser Gedenkartikel beschlossen sei:

Schlaf ein, o Mond,
Schlaf ein auf meinem Becher.
Ich seh dir zu.
Ich seh dir zu, o Mond, – ein Zecher
So still wie du.

So still wie du
Mit dir und fast gestorben
Durchwandle ich ein nächtliches Bereich.
Wir sehn uns zu.
Du trinkst aus meinem Becher:
Und wir sind gleich.

Diese Verse schrieb Binding wenige Wochen vor seinem Tod am 4. August 1938. An seinem Grab nannte sein Freund Rudolf Alexander Schröder ihn: »Denker, Künder und Bewahrer der Ewigkeit im Zerfall der Zeitlichkeit, heut wie gestern und morgen wie heut«.


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P.S.: Die Nazis wußten geschickt zu verhindern, daß von der Beerdigung Bindings allgemein Notiz genommen wurde. Der alte, störrische Mann am Starnberger See war ihnen längst lästig geworden.

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Bisher kannte ich Binding nicht. Danke für diesen schönen Artikel. Ich werde Binding lesen.

Biedermann hat gesagt…

Respekt. Ein schöner Gedenkartikel zu Ehren einer starken und vielschichtigen Persönlichkeit. Aber wer nimmt noch Notiz von ihm? Wer würde heute noch eine Dissertation schreiben über "La vie et l'œuvre de Rudolf G. Binding" (Peter Scholl-Latour, 1954, Paris !!)

Le Penseur hat gesagt…

Cher Biedermann,

herzlichen Dank, daß Sie die Scholl-Latour-Dissertation erwähnten, die ich leider vergaß in meinen Artikel zu "verpacken". Es ist schon bemerkenswert, daß ein großer Geist wie Scholl-Latour trotz seiner vorherigen Bedrohung durch die Nazis gerade über Binding, den er als Gegenfigur zu diesen ansah, seine Arbeit schrieb! Aber zwischen einem "(Deutsch-)Nationalen" und "Nazis" zu unterscheiden, setzt halt Hirn und Geschichtskenntnisse voraus — was bei Antifanten freilich eine vermessene Hoffnung wäre!