Die Gefahr des Memoirenschreibers (und um so größer ist diese Gefahr, je reicher und bewegter das Leben des Schreibers gewesen ist) – die Gefahr ist die Übermacht und Zähigkeit des Stoffs, den der Verfasser zu kneten und durch seine Kunst zu bändigen hat. Meines Erachtens kann nur, wer dramatisch, und zwar leidenschaftlich dramatisch erlebt, gute Memoiren schreiben. Das ist auch der letzte Grund, warum die Memoiren des kalten Fisches Bülow trotz allen amüsanten anekdotenhaften Aufputzes und bos-haften Charakterskizzen nicht gut sind und letzten Endes nur ein Gefühl des Ekels hinterlassen, als ob man eisigen Schleim geschluckt hätte. (Tagebücher 1918-1937. Insel 659, S 704)
Nun, ich habe die Denkwürdigkeiten Seiner Durchlaucht gelesen, und zwar mit großen Vergnügen, und dabei keineswegs eklig »eisigen Schleim« zu schlucken vermeint — die geneigten Leser haben ja die Möglichkeit, die Probe aufs Exempel zu machen, und in allen vier Bänden (
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4), die online zur Verfügung stehen, selbst nachzulesen. Die Aversion des Grafen Kessler wird verständlicher, wenn man in Wikipedia folgende pikante Episode aus der frühen Diplomatentätigkeit des späteren Kanzlers liest:
Ab März 1878 war er an der deutschen Botschaft in Paris tätig, wo er im November zum Zweiten Sekretär ernannt wurde. Zwischenzeitlich war Bülow im Sommer 1878 dem Sekretariat des Berliner Kongresses zugeteilt. In Paris hatte er im Auftrag des Berliner Hofes die Familie des Bankiers Adolf Wilhelm von Kessler zu bespitzeln. Dort kam es zu einem Skandal, als Bülow vergeblich versuchte, dessen attraktive Frau Alice, die Mutter von Harry Kessler, in Abwesenheit ihres vielverreisten Ehemannes zu verführen. In seinen späteren Erinnerungen unterstellte er Adolf von Kessler, dieser habe die Schön-heit seiner Frau gewinnbringend für seine geschäftlichen Interessen benutzt.
Es sei dahingestellt, ob Bülows Vermutung zutraf oder nicht — jedenfalls kann man sich denken, daß das Verhältnis zwischen dem »roten Grafen« — Kessler hatte sich nach dem Kriegsende ziemlich an die SPD angenähert, wobei ihm jedoch größere diplomatische Missionen in der Weimarer Zeit versagt blieben — und Bülow, dem damals »vergeblichen Courmacher« seiner Mutter, von endenwollender Herzlichkeit waren, insbesondere nachdem ihm dessen Interpretation der damaligen Vorkommnisse bekannt geworden war. Doch schon weit früher, am 24.1.1919 (ebend., S 112), fällt sein Urteil ebenso vernichtend aus:
Was bei Bülow frappiert, ist, daß er, der Hauptschuldige am Weltkrieg und an Deutsch-lands Untergang, ein so offenbar ruhiges Gewissen hat. Er trägt dasselbe rosige, aus-geruhte, fast niedliche Gesicht, mit dem er schon vor zwanzig, ja vor vierzig Jahren (so lange kenne ich ihn) Zitate verzapfte und geistvoll, wie es sich vor schönen Frauen gehört, plauderte. Er hat von allen Dingen, die in der Welt vorgingen, immer nur sein eigenes rosiges Antlitz im Spiegel gesehen. Ein Glücksschweinchen, das immer nur sein eigenes Glück betrachtet hat, jetzt sogar noch nach der Katastrophe.
War nun Bülow jener fatale »Hauptschuldige«, als den man ihn oft hinstellt? Bei halbwegs objektiver Betrachtung wird man das wohl verneinen müssen: der Zündstoff, der schließlich 1914 zur Explosion führen sollte, wurde nicht nur von Bülow, wurde nicht bloß in Berlin gesammelt und gelagert — an dieser Zusammentragung waren die Staatskanzleien in Europa insgesamt (und in Nordamerika, nicht zu vergessen) eifrig beteiligt! Und was den ihm oft angekreideten Satz von Deutschland, das »seinen Platz an der Sonne« haben wolle, betrifft — da gibt es aus dem Munde britischer, französischer, russischer und amerikanischer Politiker fürwahr pronociertere Äußerungen von Großmachtstreben und Expansionspolitik! Die deutsche Zwangsneurose, der »Schuldkult«, die ostentative Bestreuung des Hauptes mit Asche, hat zwar lange Tradition, aber deshalb noch lange nicht Berechtigung.
War nun Bernhard von Bülow jener von Kaiser Wilhelm II ersehnte »neue Bismarck«, um, wie dieser meinte,
... so wie dieser und mein Großvater Deutschland äußerlich zusammenhämmerten, so werden wir im Innern den Dreck des Parlaments- und Parteiapparats wegräumen.
Tagträume eines geltungssüchtigen Monarchen, kann man dazu nur sagen! Bülow war sicherlich ein loyaler, manchmal vielleicht
zu loyaler konstitutioneller Minister, aber er war kein Reaktionär, kein bloßer Paladin eines absoluten Monarchen. Der damalige Hofmarschall Kaiser Willhelms, Graf von Zedlitz-Trützschler, dessen auf diesem Blog schon
vor einiger Zeit gedacht wurde, sah ihn m.E. mit großer Klarheit — in seinen Vorzügen ebenso, wie in seinen Schwächen — wenn er schrieb:
Häufig hatte ich Gelegenheit, den Reichskanzler Grafen Bülow im
allerkleinsten Kreise, besonders im Neuen Palais zu beobachten. Mit
großer persönlicher Liebenswürdigkeit, Sicherheit und Geschmeidigkeit
verbindet er das Talent eines der gewandtesten Causeurs, die ich je
gesehen habe. Eigentümlich aber war es, daß, trotz dieser fesselnden und
häufig geradezu hinreißenden Begabung, bei der man das Gefühl haben
konnte, »endlich einmal ein Mann, der über der Schwüle und dem Druck der
Atmosphäre steht«, Augenblicke kamen, in denen das Vertrauen in die
Sicherheit seiner Persönlichkeit völlig zerstört wurde. — Die unendlich
geschickte Art, von einer ausgesprochenen Ansicht, die nicht ganz den
Beifall des Kaisers fand — der weniger aufmerksame Beobachter hätte dies
kaum wahrgenommen —, zu der Auffassung von Seiner Majestät
hinüberzugleiten, konnte Bewunderung, aber auch Mißtrauen erregen. (»Zwölf Jahre am deutschen Kaiserhof«, S 36 f)
Im damaligen Artikel setzte ich hinzu:
Das vielzitierte »persönliche Regiment« Kaiser Wilhelms II, das nach dem Ersten Weltkrieg gerne als die
Hauptursache der Niederlage herangezogen wurde, hätte nicht — oder
wenigstens nicht so stark — funktioniert, wären nicht die vielen
willfährigen Exe-kutoren desselben am Werke gewesen. Wobei nicht zu
verhehlen ist, daß durch die (im Wesen einer konstitutionellen, anders
als einer parlamentarischen Monarchie liegende!) »Personalhoheit« des
Monarchen hinsichtlich der Auswahl seiner Minister natürlich die
Berufung willfähriger Werkzeuge begünstigt wurde.
... und kann dem auch heute nichts anderes beifügen. Das ist in der Tat die Crux der konstitutionellen Monarchie: sie »funktioniert« nur mit großen, sittlich gefestigten und staatspolitisch weitsichtigen Herrschergestalten — die aber immer nur die Ausnahme, nie die Regel waren. Die Historikerin Katha-rina Kellmann benennt in ihrer »biographischen Skizze« über Fürst Bülow die Umstände, unter denen dieser zu agieren hatte, und welche Mittel er dabei einzusetzen wußte:
Der Monarch, ein innerlich unsicherer Mensch, schätzte Bülow, der ihm
das Gefühl gab, ein großer Herrscher zu sein. Wilhelm II. glaubte,
endlich den Politiker gefunden zu haben, der seine Ziele teilte, der
aber gleichzeitig auch mit dem Reichstag umzugehen wusste. „Mit den
ärgsten Schmeicheleien und mit barockem Humor wirkte er auf den Kaiser,
mit etwas zynischem Zurschautragen völliger Unvoreingenommenheit auf die
Parlamentarier“, beschrieb der Historiker Johannes Ziekursch die Wandlungsfähigkeit Bülows (Johannes Ziekursch, Das Zeitalter Wilhelms II., Frankfurt 1930. S.109).
(Hier weiterlesen)
Daran ist sicher viel wahres — und doch nicht die ganze Wahrheit! Denn Deutschland war nicht ein homogener Einheitsstaat, sondern ein Fleckenteppich größerer und kleinerer Monarchien (sowie dreier Stadtrepubliken), die teils (scil. Bayern, Württemberg und Sachsen) sogar von Königshäusern regiert wurden und sogar »kleine« diplomatische Beziehungen über die Reichsgrenzen hinweg, z.B. zum Hl. Stuhl und nach Österreich, unterhielten. Und wie sehr sich alle Gliedstaaten des Deutschen Reiches immer noch als »Staaten« betrachteten, erkennt man u.a. daraus, daß sie auch untereinander über Gesandtschaften verkehrten, und durch ihre Gesandten beim Bundesrat vertreten waren.
Und, was heute fast niemand mehr weiß: nicht etwa der »Deutsche Kaiser« war der Souverän, das Staatsoberhaupt des Reiches — sondern dieser permanente Gesandtenkongreß, genannt »Bundesrat«! Und hier war bei aller preußischer Dominanz im Reich (das Königreich Preußen dominierte nicht nur territorial, sondern auch mit über 60% der Reichsbürger) doch sorgfältiges Lavieren zwischen verschiedenen Interessen die große Kunst! Fürst Bülow sprach im Reichstag stets in der Rolle eines Vertreters der »verbündeten Regierungen« — sicherlich war da viel bloße Courtoisie im Spiel: ein Duodez-Fürstentum wie Schaumburg-Lippe oder eine Hansestadt Lübeck hätte nicht aufgemuckt, wenn ein Reichskanzler im Bundesrat irgend etwas hätte durchsetzen wollen; doch im Falle von Bayern, Sachsen, Württemberg oder Baden lag die Sache wohl anders ...
So kämpfte der Reichskanzler an vielen Fronten gleichzeitig, von der Bismarck'schen Verfassung in eine Doppelrolle als Reichskanzler und Ministerpräsident des Königreichs Preußen gestellt — eine im Grunde unerfüllbare Aufgabe.
Nicht nur, daß der Reichstag mit seinem allgemeinen, gleichen (Männer-)Wahlrecht eine politisch ganz andere Zusammensetzung hatte als der preußische Landtag mit seinem Drei-Klassen-Wahlrecht (und einem dem Abgeordnetenhaus fast gleichberechtigten Herrenhaus, das fast völlig konservativ bis reaktionär »tickte«), mußten auch noch die durchaus unterschiedlichen Interessen im Bundesrat unter einen Hut gebracht werden: 25 Regierungen mit ihren eigenen, örtlichen Problemen, mit durchaus unterschiedlichen Mentalitäten — von trocken-geschäftstüchtigen Hanseaten bis katholisch-klerikalen Alpenbewohnern — und zum »Drübersteuen« noch ein Reichsland Elsaß-Lothringen, das wieder anderen Kriterien unterlag ...
Doch begeben wir uns nun von den »unmittelbar« politischen Themen der Geschichte zum weitaus erfreulicheren Teil der Hinterlassenschaft des Fürsten Bülow: zu den »Denkwürdigkeiten«, die ihn als gewandten Stilisten, als Causeur ersten Ranges, ausweisen, und zum brillanten Redner, welcher er (unbestritten von allen Gegnern) zeitlebens gewesen ist (seine Reden in drei Bänden sind, wenn man sie mit heutigen Parlaments»reden« vergleicht, kleine — nein: große! — rhetorische Meisterwerke! Wer's nicht glaubt, der lese einfach nach: Band
1 –
2 –
3)
Insbesondere der vierte Band der »Denkwürdigkeiten«, der quasi als Supplement zu den ersten drei Bänden, die Bülows Erinnerungen ab der Ernennung zum Staatssekretär des Auswärtigen Amtes bis zum Ende des Ersten Weltkriegs umfassen, die Jugend- und Diplomatenjahre »nachliefert«, ist in der Lebhaftigkeit und Treffsicherheit der Darstellung ungemein fesselnd! Hier sind es besonders die Erinnerungen an seinen Vater — der unter Bismarck selbst Staatssekretär des Auswärtigen gewesen war — und die Berichte über seine Teilnahme am Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 als junger Kavallerieoffizier, die zu fesseln vermögen. Und, natürlich, die »unendliche Geschichte« über die Eroberung seiner innig geliebten
Frau Maria, einer geborenen Beccadelli di Bologna,
Marchesa di Altavilla, Principessa di Camporeale, und (nach der Wiederverehelichung ihrer verwitweten Mutter) Stieftochter des italienischen Ministerpräsidenten Marco Minghetti, sowie geschiedenen Gräfin Dön-hoff.
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Gemälde v. Lenbach (1873) |
Bernhard von Bülow kämpfte hier gegen mannigfache Schwierigkeiten: zunächst war es erst nach längerem Tauziehen möglich, Fürst Bismarck die erforderliche Heiratserlaubnis abzuringen, dann mußte die geschiedene Ehe mit Graf Dönhoff (pikanterweise ein Kollege des Jungdiplomaten Bülow!), die nach katholischen Ritus geschlossen worden war, durch den Vatikan annulliert werden, schließlich waren noch zahllose gesellschaftliche Vorurteile (eine Italienerin, geschieden, aber noch dazu katholisch!) in der Berliner Gesellschaft auszuräumen.
Bülow überwand alle Schwierigkeiten, und seine Frau war dann nicht nur viele Jahre Mittelpunkt eines wichtigen »Salons« in Berlin, sondern auch eine enge Vertraute von
Kaiserin Friedrich, wie auch das Liebkind Wilhelms II, der sie von Jugend auf schwärmerisch verehrt hatte (ob-wohl sie rund zehn Jahre älter war als er) — eine, ange-sichts des zumeist mehr als gespannten Verhältnisses zwischen Wilhelm II und seiner Mutter, nicht ungefährliche »Gemengelage«, die jederzeit außer Kontrolle geraten konnte. Manchmal denkt man, daß Bülow etwas von einem Zirkus-Artisten, etwa einem Trapezkünstler, gehabt haben mußte, um all das erfolgreich meistern zu können ...
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde Bülow vom Auswärtigen Amt aufgrund seiner guten Beziehungen in die römische Gesellschaft — freilich nur halbherzig — »reaktiviert«, und sollte als Sonderbotschafter versuchen, Italien im Dreibund zu halten, und wenn schon nicht an der Seite Deutschlands und Österreichs, so doch wenigstens weiterhin als neutrale Macht. Mangels Rückhalt für seine Mission, und ohne wirkliche Bereitschaft Deutschlands (wie auch Österreich-Ungarns), durch einige Konzessionen wenigstens die Neutralität Italiens zu »erkaufen«, blieb Bülow der Erfolg versagt — ein Erfolg, der vielleicht den Ausgang des Ersten Weltkriegs anders gewendet hätte ...
Nach dem Weltkrieg lebte Bernhard von Bülow abwechselnd in Rom, in der idyllisch gelegenen Villa Malta (nicht mit der »Villa
di Malta«, dem Sitz des Malteser Ritterordens, auf dem Aventin, zu verwechseln!), und in Deutschland. 1921 kam bei einer Regierungskrise noch einmal kurzfristig sein Name als möglicher Reichskanzler aufs Tapet — aber für jede neue politische Tätigkeit war seine Zeit vorbei, das erkannte er selbst am besten.
Die Ehe mit Bernhard von Bülow hatte Bestand bis zum Tode der Fürstin am 26.1.1929. Der damals fast Achtzigjährige sollte seine Frau nur um wenige Monate, bis 28.10.1929, überleben. Begraben sind sie neben einander auf dem Nienstedtener Friedhof. Auf der Grabplatte der Fürstin steht eingraviert:
Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen
(Ev. Matthäi 5.8)
und auf der seinen:
Ich bin beides. Dein Pilgrim und dein Bürger, wie alle meine Väter
(Psalm 39.13)
Wahre Worte für beider Leben. Und wie bestürzend wahr für das Leben von Fürst Bülow, der doch zeitlebens als Weltmann
κατ' εξοχήν galt, das wird einem besonders klar, wenn man
den Psalm zur Gänze liest ...