Mittwoch, 5. März 2014

Mises-Lektüre IV: Einige Gedanken über lebende und tote Religionen

... bringt Ludwig von Mises — Gedanken, die für den heutigen Aschermittwoch durchaus geeignet sind:
Nicht nur als Kirche, auch als Weltanschauung ist Religion ebenso ein Erzeugnis des gesellschaftlichen Zusammenwirkens der Menschen wie jede andere Tatsache des geistigen Lebens. Wie unser Denken sich keineswegs als ein Individuelles, von allen gesellschaftlichen Beziehungen und Überlieferungen Unabhängiges darstellt, sondern schon dadurch allein, daß es in den Denkmethoden vor sich geht, die in Jahrtausenden durch das Zusammenwirken von ungezählten Scharen herausgebildet wurden, und die wir wieder nur als Glieder der Gesellschaft haben übernehmen können, sozialen Charakter hat, so ist auch das Religiöse als isolierte Erscheinung nicht vorstellbar. Auch der Ekstatiker, der in schauervoller Verzückung alle Umwelt vergessend, seinen Gott erlebt, ist zu seiner Religion nicht allein gekommen. Die Denkformen, die ihn zu ihr führen, sind nicht sein individuelles Erzeugnis, sie gehören der Gesellschaft. Ein Kaspar Hauser kann nicht ohne fremde Hilfe Religion entwickeln. Auch die Religion ist ein geschichtlich Gewordenes und im steten Wandel des Gesellschaftlichen Befindliches.
Die Religion ist aber auch in dem Sinne ein sozialer Faktor, daß sie die gesellschaftlichen Beziehungen unter einem bestimmten Gesichtswinkel betrachtet und danach Regeln für das Handeln der Menschen in der Gesellschaft aufstellt. Sie kann nicht darauf verzichten, in den Fragen der Sozialethik Farbe zu bekennen. Keine Religion, die dem Gläubigen Antwort auf die Rätsel des Lebens geben und ihn dort trösten will, wo er des Trostes am bedürftigsten ist, darf sich damit begnügen, das Verhältnis des Menschen zur Natur, zum Werden und Vergehen, zu deuten. Läßt sie das Verhältnis von Mensch zu Mensch außerhalb ihrer Betrachtung, dann vermag sie auch keine Regel für den irdischen Lebenswandel zu geben, und läßt den Gläubigen allein, wenn er anfängt, über die Unzulänglichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse nachzudenken. Wenn er wissen will, warum es Arme und Reiche, Gewalt und Gericht, Krieg und Frieden gibt, muß ihm die Religion eine Antwort geben können, oder sie nötigt ihn, sich anderswo Antwort zu holen. Dann aber gibt sie den Menschen frei und verliert die Macht über die Geister. Religion ohne Sozialethik ist tot.
Tote Religionen sind heute Islam und Judentum. Sie bieten ihren Anhängern nichts mehr als Ritualregeln. Beten und Fasten, bestimmte Speisen zu meiden, die Vorhaut zu beschneiden, solche und viele andere Vorschriften wissen sie zu machen. Das ist aber auch alles. Dem Geiste bieten sie nichts. Sie sind durchaus entgeistigt; alles, was sie lehren und verkünden, ist Rechtsform und äußere Vorschrift. Sie sperren den Bekenner in einen Käfig von traditionellen Bräuchen und Lebensregeln ein, in dem er oft kaum Luft zum Atmen findet, doch seinem inneren Drang geben sie keine Befriedigung. Sie unterdrücken die Seele, doch sie erheben und retten sie nicht. Seit vielen Jahrhunderten hat es im Islam, seit bald zwei Jahrtausenden im Judentum keine religiöse Bewegung gegeben. Die Religion der Juden ist heute noch dieselbe wie in den Tagen, da der Talmud entstand, die des Islam noch dieselbe wie in den Tagen der arabischen Eroberungen. Ihre Literatur, ihre Schulweisheit wiederholen unaufhörlich dasselbe und dringen nicht über den Kreis der Theologen hinaus. Vergebens sucht man bei ihnen nach Männern und Bewegungen, wie sie das abendländische Christentum in jedem Jahrhundert hervor-gebracht hat. Das, was sie allein zusammenhält, ist die Ablehnung des Fremden und Andersartigen, sind Tradition und Konservatismus. Nur im Haß gegen das Fremde leben sie noch, raffen sie sich immer wieder zu großen Taten auf. Alle Sektenbildung, ja alle neuen Lehren, die bei ihnen aufkommen, sind nichts als Formen dieses Kampfes gegen das Fremde, gegen das Neue, gegen die Ungläubigen. Auf das geistige Leben des einzelnen, soweit sich unter dem dumpfen Drucke des starren Traditionalismus ein solches überhaupt entfalten kann, hat die Religion keinen Einfluß. Am charakteristischesten tritt dies in der Einflußlosigkeit des Klerus zutage. Seine Stellung ist nur äußerlich geachtet. Von dem tiefen Einfluß, den er in den abendländischen Kirchen - in jeder von ihr in anderer Gestalt; man denke an den Jesuiten, an den Bischof deutscher Katholiken und an den deutschen protestantischen Pfarrer - ausübt, ist hier keine Rede. Nicht anders war es in den polytheistischen Religionen des Altertums und nicht anders ist es in der morgenländischen Kirche. Auch die griechische Kirche ist seit mehr als tausend Jahren tot.
(aus: Ludwig von Mises: Gemeinwirtschaft, Jena 1922, S. 398 ff.)
 
Bemerkenswerte Worte über das Judentum von einem Nachfahren Mayer Rachmiel Mises', weiland Präsidenten der Lemberger Kultusgemeinde, der von Kaiser Franz Joseph als »Edler von Mises« in den Adelsstand erhoben worden war ...

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