Donnerstag, 15. Februar 2018

Hundert notwendige Gedichte XLV: Christian Wagner


Seit gestern erst befinden wir uns in der Fastenzeit — und heute erfolgt schon ein Vorgriff auf deren letzten Tag, den Karsamstag (im Titel des Gedichtes freilich als »Ostersamstag« bezeichnet, aber das ist offenbar eine lokale, wenn auch verwechslungsträchtige Bezeichnung dafür):



Ostersamstag
(Weiße Anemonen)

    Wie die Frauen
Zions wohl dereinst beim matten Grauen
Jenes Trauertags beisammen standen,
Worte nicht mehr, nur noch Tränen fanden;

    So noch heute,
Stehen, als in ferne Zeit verstreute
Bleiche Zionstöchter, Anemonen,
In des Nordens winterlichen Zonen.

    Vom Gewimmel
Dichter Flocken ist ganz trüb der Himmel.
Traurig stehen sie, die Köpfchen hängend,
Und in Gruppen sich zusammendrängend.

    Also einsam,
Zehn und zwölfe hier so leidgemeinsam,
Da und dort verstreut auf grauer Öde,
Weiße Tüchlein aufgebunden jede,

    Also trauernd,
Innerlich vor Frost zusammenschaudernd,
Stehn alljährlich sie als Klagebildnis
In des winterlichen Waldes Wildnis.


Christian Wagner: ein bis zur Kärglichkeit bescheidenes Leben. Seine Eltern zu arm, um ihn nach seinem Wunsch (und dem der Mutter, die aus einer Lehrerfamilie stammte), Lehrer werden zu lassen. Also blieb er bis zu seinem Tod in einer Kleinbauernwirtschaft hängen – »zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel«, wie der Volksmund sagt. Neben der eigenen Wirtschaft verdingt er sich zu Wald- und Feldarbeiten, um seine Familie durchzubringen. Zweimal verwitwet, die Kinder aus erster Ehe schon bald nach der Geburt verstorben, 1892 ebenso viel zu früh seine zweite Frau – Cousine der ersten – nach jahrelanger, schwerer Krankheit. Eine der Töchter führt dem alten Mann den Haushalt. Erst mit fünfzig erscheint sein erstes Büchlein mit Gedichten – im Selbstverlag auf Kommission gedruckt –, und findet zu aller Überraschung Anklang, muß bald nachgedruckt werden. Weitere Gedichtbändchen erscheinen in den folgenden Jahren, insgesamt acht an der Zahl.

Lange stößt er bei den Nachbarn, im ganzen Dorf auf Kopfschütteln – ein Bauer, der am Feierabend und im Winter Gedichte, Erzählungen und Dramen schreibt? Der Pfarrvikar vermahnt ihn: »Was wäre das, wenn ein jeder Bauer nun anfinge zu dichten?« Die wunderbar überlegene Antwort Wagners: davor brauche einem nicht zu bangen, es werde stets mehr Spatzen geben als Lerchen! Im Alter dann zunehmende Bekanntheit: ein Kreis von Verehrern, die zu einem Sprachwunder in der Gestalt eines unscheinbaren, schwäbischen Kleinbauern pilgern, ihn unterstützen, seine Werke drucken helfen, ihm im Alter einige Reisen nach Italien und der Schweiz finanzieren (bis dahin war er über die Hauptstadt Württembergs, Stuttgart, nicht hinausgekommen).

Schließlich kommt Anerkennung: Ehrengaben der Weimarer Schillerstiftung und des Schwäbischen Schillervereines, ab 1900 ein jährlicher Ehrensold durch die Huld des Königs von Württemberg, der seine finanziell sehr beengten Verhältnisse etwas bessert. 1915 schließlich, zum Achtziger, wird er Ehrenbürger seiner kleinen Geburts- und Heimatgemeinde Warmbronn.

Heute ist Christian Wagner so gut wie vergessen, trotz mancher exotischer, heutigen esoterischen Strömungen – er bezeichnet sich in seinem ersten Buch als »Brahminen und Seher« – durchaus entgegenkommender Anklänge in seiner Dichtung. Lyrik zieht heute eben nicht – gereimt (oder im Hexameter) schon überhaupt nicht. Ein kleiner Verein kümmert sich freilich bis heute verdienstvoll um Nachlaß und Andenken des Dichters.

Und dennoch: der große Literaturkenner Hermann Pongs, Germanist in Göttingen, charakterisiert ihn mit den Worten:
Schwäbischer Bauerndichter, dessen seelenweitende Natur- und Todesmystik mit den besten Gedichten in die Weltliteratur reicht. […] Das in Sprache und Rhythmus vollkommenste Gedicht ist wohl „Ostersamstag“. Klagefrauen um Christi Tod und verschneite Anemonen sind in eins gesehen, Passion hier wie dort. Gemeißelte Sprache, die an C. F. Meyer erinnert. (Herman Pongs, Lexikon der Weltliteratur)
Vor hundert Jahren, in der Morgenfrühe des 15. Februars 1918, ist Christian Wagner zu Warmbronn dahingegangen – »… erlosch das niedergebrannte Flämmchen«, wie es sein Herausgeber Otto Güntter in der seiner Werkauswahl beigegebenen biographischen Notiz zutreffend ausdrückte.






5 Kommentare:

  1. Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.

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  2. Cher "D.a.a.T.",

    nehmen Sie gefl. zur Kenntnis, daß ich auf dem LP-Blog die Artikel schreibe, die ich für richtig halte, und Sie nur dann Kommentarpostings freigeschaltet bekommen, wenn sie in irgendeinem Zusammenhang mit dem Artikel stehen.

    Aus der Saga vom starken Grettir: "Ich will mein Essen, und nicht solche Flausen!" -- soviel zu "Fastenzeit"

    stand in keinem erkennbaren Zusammenhang mit Christian Wagner und wurde daher gelöscht. Der Rest Ihres Postings sowieso.

    P.S.: Warum Sie noch immer nicht begreifen, daß Nazi-Nostalgie auf diesem Blog keine Heimat hat, erschließt sich mir nicht ...

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  3. Anno 1980 ist bei Suhrkamp ein Gedichtband erschienen, mit einem Vorwort von Hermann Hesse und einem Nachwort von einem Zeitgenossen unsereinen,nämlich von Peter Handke.
    Und wenn unsereiner das noch weiß, gell, ist der Christian Wagner so ganz vergessen wohl nicht.

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  4. Cher Brettenbacher,

    ohne Ihnen nahetreten zu wollen: Ihr (oder auch mein) Wissen über Literatur ist völlig irrelevant in dem Zusammenhang! Ich habe heute zufällig mit einem Germanistikprofessor über Christian Wagner gesprochen — oder, besser: zu ihm hin-monologisiert, denn der kannte ihn nicht einmal im Entferntesten. Null Ahnung, obwohl er nicht bloß beruflich sehr belesen und literaturkundig ist!

    Eine Suhrkamp-Schwalbe macht keinen Frühling, auch wenn sie ein Hesse-Vorwort zitiert. Daß Handke ihn kennt, ehrt ihn, aber ändert nichts an der faktisch völligen Vergessenheit, in die der Dichter gefallen ist ...

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  5. Werter LePenseur, es gibt kein V(v)ergessen, objektiv. Es gibt freilich schlaffe und straffe Geister. Für letztere gilt: totum simul.
    Und wenn ich schon "faktisch" höre... !
    Und dem Nachtfraß des Vergessens sei dieses Licht -wenn es die Technik zuläßt - gegengestellt.
    Im Jenseits der Sinne
    6. Januar 1978, 7:00 Uhr Aktualisiert am 21. November 2012, 16:14 Uhr

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