Löse nun leise
Aus meinen Augen,
Freundin, die deinen,
Löse den Blick.
Droben gehn Welten.
Schweige vereint mir.
Schauend nach oben
Bist du gemahnt:
Daß du der Sterne
nimmer vergessest!
Und überschweigend
Steht die Nacht.
Hier bist du Mensch nur.
Aber dort drüben
Liegen die Wünsche
Ewiger Bahnen.
Anhauch des Fernsten,
Stummer Gesetze
Atem und Finger
Rühret dich an.
Die Verse erinnern mich ein wenig an Gedichte des »Olympiers« — nicht als Nachahmung, sondern als durchaus kongeniale Neuschöpfung aus dem Geiste Goethes gemeint!
Binding war (und das wissen heute nur noch wenige) eben nicht nur ein formvollendeter Novellist und feinnerviger Autobiograph, sondern auch ein Lyriker von hohem — nein: höchstem! — Range. Sicher war er nicht so »innovativ« wie bspw. Rilke, auch eine Vorbildswirkung, wie sie ein Stefan George erreichte, war ihm weder gegeben, noch auch von ihm überhaupt angestrebt.
Doch ist nicht das einzig Entscheidende in der Lyrik das gemeisterte Wort? Und zwar jenes Wort, das uns in einem Gedicht in völlig neuer Kraft und Schönheit (und, wenn es denn sein soll, auch in seiner Ohnmacht oder Häßlichkeit!) entgegentritt?
Mancher Leser wird angesichts der reimlosen Verse verwundert sein, daß diese Aufnahme in mein Projekt der »Hundert notwendigen Gedichte« fanden — machte ich doch nie ein Hehl daraus, daß mir reimlose Lyrik meist bloß »ungereimt« vorkäme. Dennoch: wo dichterisches Genie auf Reime verzichtet, bleibt eben doch ein Gedicht erkennbar — und nicht, wie meist in der sogen. »modernen Lyrik« durch überraschende Zeilenumbrüche typographisch aufgebrezelte, prosaische Ungereimtheit.
Quasi »außer Konkurrenz« sei noch ein Gedicht zitiert, weil es zum Todesgedächtnis Bindings seine innere, letztlich agnostische Haltung zu den »letzten Dingen« klar — und für manche meiner Leser »mit Glaubenshintergrund«: schockierend — ausdrückt:
Letzter Spruch
Wie bald sind ausgetrunken
die Becher der Zeit, die brausenden
– und es folgen die schalen.
Und ein Tag kommt – der stillste.
Da leerst du den schalsten der Becher.
Aber sein Rausch währt ewig.
Dann wirst du nicht mehr trinken.
Alle läßt du vorüber:
denn dich dürstet nicht mehr.
Am 4. August 1938 ist Rudolf G. Binding aus dieser Welt gegangen. Er hinterließ ein makelloses Werk — seinen charakterlichen Ruf vermochten Kritiker, meist mit der »Gnade später Geburt« gesegnet, besonders ab 1968 hingegen »erfolgreich« zu untergraben. Das war unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht so, wenn man bspw. bedenkt, daß ein Peter Scholl-Latour, selbst nur durch das dazwischenkommende Kriegsende dem Tod im KZ, in dem er einsaß, entgangen, seine Dissertation (»La vie et l'œuvre de Rudolf G. Binding«, Paris 1954) über diesen Dichter schrieb!
Heute gilt Binding hingegen fast als »Nazi-Dichter«. Wer bedenkt, daß die Nazis ihrerseits ihn längst als Gegner, oder zumindest lästigen Mahner, sahen, und noch sein Begräbnis nach Möglichkeit zu marginalisieren versuchten, wird die Absurdität dieser Vorwürfe erkennen. Daß Binding wegen der Lebensgefährtin seiner letzten Jahren (nämlich eben der unterm NS-Regime), seiner oft besungenen »nordischen Kalypso« — Elisabeth Jungmann war »rassefremd« und konnte nur dank Bindings Prominenz ohne Verfolgung in Deutschland leben; von wo sie nach seinem Tod eiligst emigrieren mußte — zu mancher Vorsicht genötigt war, wird ihm nur ein vernagelter »Antifaschist« vorwerfen können.
Auf diesem Blog wurde aus Anlaß der 150. Wiederkehr von Rudolf G. Bindings Geburtstag ein längerer Gedenkartikel veröffentlicht: auch in diesem sind Gedichte von vollendeter Schönheit zitiert. Die Leser sind eingeladen, einen großen Dichter für sich (wieder) zu entdecken ...
Cher Penseur,
AntwortenLöschenendlich wieder ein Beitrag zur Lyrik, und dann auch noch zu einem Autor, der in Durs Grünbeins Epöchlein chancenlos sein muß.
Wie von Ihnen beschrieben wurde Bindings Werk mittels (damals und heute funktionierenden) Signalbegriffen wie „elitär“ und „NS-Staat“ den nachfolgenden Generationen „(un)schmackhaft“ gemacht.
Ein Beispiel bietet der Vortrag „Lyrik während der Zeit des Nationalsozialismus“ eines Walter Wehner, der ein Gedicht Bindings (und überhaupt nur dieses eine) aus der Zeit des 1. (sic!) Weltkrieges zitiert:
SCHLACHT - DAS MASS
Die Erde drängt sich zitternd an uns heran.
Das Feld steht auf wie ein Mensch vom Lager.
Saaten bewaffneter Männer sprießen
aus unsichtbaren Samen
in den Furchen zutag.
Schauerlich groß blühn grünschwarze Kelche
Erdstaub und giftige Gase
allenthalben empor.
Aufgeschreckt rasend
springen Fontänen aus trockenem Grund.
Auf Feuer gekreuzigt
fahren Menschenleiber zum Himmel,
zerstieben mit einer Grimasse,
schwarze verkohlte Sterne:
Erde und Gebein.
Rauchterrassen wälzen sich über uns hin.
In schweren Wettern rauscht Eisen nieder.
Blitze tasten heran.
Donner erwürgt uns.
Heulender Abgrund bäumt sich herauf
allüberall, und die Sonne schleift
Dunkel verpestete Mähnen in unseren Atem.
Unentrinnbar hält uns der Himmel
unter sich hingebannt:
unheimliches Basiliskenauge
Über kleinem Getier.
Einsam liegen wir da in der Not der Schlacht;
wir wußten, daß jeder einsam war.
Aber wir wußten auch dies:
Einmal vor Unerbittlichem stehn,
wo Gebete entrechtet, Gewinsel zu Gott
lächerlich ist,
wo keines Mutter sich nach uns umsieht,
kein Weib unsern Weg kreuzt,
wo alles o h n e Liebe ist,
wo nur die Wirklichkeit herrscht,
grausig und groß,
solches macht sicher und stolz.
Unvergeßlich und tiefer
rührt es ans Herz des Menschen
als alle Liebe der Welt.
Und wir fühlen: dies war das Maß.
Nach eingehender Kommentierung von Bindings Kriegsgedicht fährt Wehner fort:
(…) „Er ließ sich zum stellvertretenden Präsidenten der Deutschen Akademie der Dichtung wählen, um in einem Brief an das Preußische Ministerium für Kultur, Kunst und Volksbildung im servilen Tonfall zu schreiben: "Ich beeile mich, Ihnen mitzuteilen, dass ich feststellen werde, ob Musil jüdischer Abkunft ist, und dass ich in diesem Falle in kürzester Zeit einen anderen Namen unterbreiten werde." Binding schlug dann auch für eine Stiftung die genehmere Ina Seidel vor.
Keinen Widerspruch bildete dabei die vorsichtige Distanzierung des Rittmeisters des 1. Weltkrieges von der NSDAP. Er wird nie Parteimitglied, hat sich von seiner jüdischen Lebensgefährtin Elisabeth Jungmann nie getrennt, sich mit Goebbels und Baldur von Schirach über die NS-Kulturpolitik gestritten. Die Vertreter des offiziellen NS-Staates blieben 1938 seiner Beerdigung demonstrativ fern. Ritterlichkeit, heroische Haltung und ein elitäres großbürgerliches Bewusstsein führen zu einer konservativen Kritik am NS-Staat und seinen kleinbürgerlichen Repräsentanten. Dem Gefreiten und Anstreicher Hitler fehlte es am entsprechenden "Maß" und an Stil.“
http://www.lyrik-archiv.de/aufsatz.htm
Großartige Lyrik wie die von Ihnen zitierte („Letzter Spruch“ erinnert mich – unter anderen – an Hafis) übersteht auch das!