Freitag, 10. Februar 2017

Hundert notwendige Gedichte XXXVIII: nochmals Eduard Stucken


Noch ein weiteres, nämlich das fünfte Gedicht aus dem Zyklus »Triumph des Todes« muß wegen seiner Tiefe und Schönheit hier Erwähnung finden:

Der Abt Albertus lud den Kaiser ein,
Im Klostergarten mit des Reichs Vasallen
Bei einem Prunkgelag sein Gast zu sein.
Doch als der Hofstaat kam, war Schnee gefallen;
Schnee lag auf den gedeckten Tafeln allen,
Schnee lag auf Gras, auf winterkahlen Bäumen.
Ein Traum, ein Zauberwerk erschien es allen —
Wer unterscheidet Wirklichkeit von Träumen?
Das Fest begann, — da ließ es nach zu schnein;
Die Zweige grünten; aus des Klosters Hallen
Trat eine Schar von schönen Mädchen ein,
Und bunte Vögel sah man niederfallen.
Von Liedern schien der ganze Ort zu hallen,
Es knospten Blumen, Blutschnee auf den Bäumen,
In Rosenbüschen schnalzten Nachtigallen —
Wer unterscheidet Wirklichkeit von Träumen?

Doch nach dem Mahl gefror im Glas der Wein,
Die Bäume wurden silbrige Korallen ...
Der Kaiser staunte baß: was war hier Schein?
War Neuschnee oder Blütenschnee gefallen?
Was war hier Zauber? War’s der Nachtigallen
Locklied? War es der Schneereif auf den Bäumen?
Ist kein Verlaß auf Sinne? Sind sie Fallen? ...
Wer unterscheidet Wirklichkeit von Träumen?

Ein Zauberspiel ist, Prinz, das Erdenwallen;
Maulwürfe sind wir, blind in dunklen Räumen,
Und trinken Zaubertrank aus Kelchkrystallen —
Wer unterscheidet Wirklichkeit von Träumen?

Dieses Verhältnis von (scheinbarer) Realität und (vermeintlichem) Traum ist wohl eines der beherrschenden Themen, welche sich durch das ganze Schaffen Eduard Stuckens ziehen. In seinen Gralsdramen klingt dieses Thema an, in den weltberühmt gewordenen »Weißen Göttern«, vor allem aber in seinem letzten Meisterroman, Giuliano, verwandelt es die phantasievoll geschürzten (und doch historisch peinlich genau recherchierten und referenzierten) Handlungsstränge in ein atemberaubendes Vexierspiel, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint — weder für den Helden, Giuliano, noch für den Leser. Und das doch vom Autor mit überlegener Meisterschaft immer wieder zusammengeknüpft und dann wieder scheinbar achtlos fallengelassen wird. Ein Meisterwerk, ich wiederhole mich, zu dessen Lektüre ich jedem Literaturinteressierten nur raten kann!

Noch kurz ein Wort in eigener Sache, wenn’s verstattet ist: dieser Zyklus »Hundert notwendige Gedichte« ist nun bei seinem 38. Gedicht angelangt, bis zur Hälfte ist es also nicht mehr allzu weit … …. Manchmal schleppte sich in den letzten Jahren der Fortgang dahin, mit allzu großen Pausen, die durch die Befassung mit Alltagspolitik und -polemik verursacht waren. Ich plane zwar, alle »kunstlastigen« Artikel dieses LePenseur-Blogs in einem Parallel-Blog unter dem Titel »Du holde Kunst« gesammelt und in der Folge ständig aktualisiert zusammenzufassen, und hier wird den »Hundert notwendigen Gedichten« dann auch eine eigene Seite gewidmet sein, welche die gesamte »Anthologie« dieser mir (sic!) wichtigsten Gedichte schließlich zusammenfassen soll.

Doch auch bis dahin sind alle Leser eingeladen (und deshalb gibt es ja die von Gedicht zu Gedicht länger werdende, nach Autoren alphabetisch geordnete Linksammlung zu Ende jedes Artikels dieser Serie!) zurückzublättern und vielleicht das eine oder andere Gedicht, das einfach überlesen wurde, oder im Lauf der Zeit aus dem Gedächtnis geraten ist, zurückzurufen. Sicher: nicht jedes Gedicht wird jedem etwas »geben« — doch bin ich zuversichtlich, mit dieser Sammlung doch vielen (oder wenigstens manchen) die eine oder andere Anregung gebracht zu haben, auf die hin dann eigene Erkundungswege (wohin diese immer führen!) beschritten werden mögen …





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