Samstag, 10. September 2016

Hundert notwendige Gedichte — XXXIII: Rainer Maria Rilke

Erinnerung. Ein Treffen nicht mehr ganz junger, aber eben doch noch jüngerer Leute (im Deutschen kann die Steigerungsform, der Komparativ, eben auch eine Minderung des Positivs bedeuten ...), Anfang dreißig wohl. Mein damaliger Chef (nur wenige Jahre älter als ich, er hatte die Kanzlei von seinem früh verstorbenen Vater geerbt), ein befreundeter Rechtsanwalt, frisch verheiratet, mit seiner ebenfalls anwaltlichen Gattin, und meine Wenigkeit, in Begleitung der späteren LaPenseuse ... ... übermütig bei einem Italiener in Wien, an einem sonnendurchfluteten Spätsommertag. Auf einmal ein kurzer Blick meines Chefs auf die Uhr, und der Anwaltsfreund setzte — in perfekter Imitation eines Burgschauspielers jener Tage — mit den Worten ein:

Herr, es ist Zeit ...

... und teils zu zweit, teils allein (was dem einen nicht einfiel, wußte zufällig der andere) hantelten wir uns fehlerfrei durch das Gedicht — das berühmte, oder wohl: berühmteste Gedicht von Rilke ...

Mein Chef sah etwas gequält-amüsiert drein (er liebte zwar Wein und Weib ... nur der Gesang, wenn man Rilkes Herbsthymnus darunter subsumieren will, war nicht so seines), unsere Damenbegleitung schwankte zwischen peinlich berührtem Fremdschämen und Stolz, was der jeweilige Mann nicht doch für ein gebildeter Kerl wäre. Sogar der Padrone lugte kurz aus der Küche, um nachzusehen, was da in seinem Lokal abginge. Und nein: unsere Rezitation war sicher nicht so erhebend wie die des großen Oskar Werner ...


Es ist ein ganz, ganz großes Gedicht — und doch irgendwie ... fast abgebraucht durch die häufige Verwendung (und die wenigstens können es eben so bringen wie ein Oskar Werner: erhaben, und doch nicht gestelzt, wehmütig, und doch nicht sentimental) als das Herbstgedicht κατ' ἐξοχήν. Und so verwunderte es mich nicht, daß ein lieber Bekannter aus dem fernen Bremen, dem ich  aus der Feder der Wiener Mundartdichterin Trude Marzik (aus ihrem Buch Parallelgedichte) eine Paraphrase von Rilkes Herbsttag,
Es herbstelt

Für so an Sommer müaß ma dankbar sein.
Jetzt herbstlt's halt. Mir wolln uns net beklagen.
Am Kreuzweh gspürst, es fallt der Nebel ein.

Der Wind waht kühl — geh ja net ohne Huat,
sunst muaßt dein Leichtsinn mit an Schnupfen büaßen!
Die Trauben san scho gläsrig und voll Süaßen — 
der Wein wird, halt' des Wetter, stark und guat.

An Schrebergarten, wann ma den jetzt hätt!
Da müaßt ma net so umanand spazieren,
kunnt Zwetschken brocken, plaudern, tarockieren...
So aber muaß ma einkehrn  — 's is scho spät  — 
und bei sein' Viertel vua si hin sinnieren.
... gesandt hatte, darauf replizierte:
Das Herbstgedicht Trude Marziks habe ich mir von einer Freundin vortragen lassen, die einige Jahre in Wien gelebt hat. Es hat sehr viel Charme - anders als das Original, das - zumindest für meine Ohren - recht prätentiös klingt.
Nun: "prätentiös" ist natürlich nicht völlig danebengegriffen. Und dennoch, und dennoch ...


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P.S.: zu Oskar Werner erzählte mir einmal ein inzwischen längst pensionierter Finanzstrafreferent, ihm sei anläßlich der Übersiedlung des Aktenarchivs seines Amtes zufällig der sorgfältig verschnürte, skartierte Steuerstrafakt von Oskar Werner in die Hände geraten, den er (verbotenerweise, doch von Neugier getrieben) geöffnet und nachgelesen habe, was da wohl Erschreckliches drinnenstünde. Nicht der Rede wert, meinte er — bis auf den Beschluß über die Verfahrenseinstellung, irgendwann vom Dezember 1984. Neben den Stempelaufdruck
Keine Einleitung eines Strafverfahrens
gem. § 82 Abs 3 lit c FinStrG wegen ....
hatte ein kunstkundiger Beamter ein
Requiescat in pace!
kalligraphiert — und amtssigniert.
Auch das ist Österreich ...






9 Kommentare:

  1. Was für eine grandiose Interpretation eines der schönsten Gedichte deutscher Sprache durch den vielleicht größten deutschsprachigen Mimen des 20. Jahrhunderts. Vielen Dank!

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  2. Grad wenn man sich's vorstellt, daß der Rilke die Marzik vernommen hät:,- kann man sich's ausdenken, wie er reagiert hät? Lieber nicht!
    Das ist keine Parodie, sondern eine Züchtigung. Allerdings züchtigt eine Zwergin, die auf den Schultern eines Riesen sitz, eben diesen. Die Zwergin weiß das, und deshalb hat es Charme.
    Hans-Egon Holthusen (wir nennen diesen Namen gern!)hat den R.M.R. - erstaunlich, dass wir diese Vokabel auch mal benutzen wollen - relativiert. Rudolf Hagelstange raunzte am Ranking herum, mit guten Gründen, auch mit etwas Eifersucht.
    Ins Zentrum aber trifft, was Dietrich Bonhoeffer aus der Todeszelle an Maria von Wedemeyer schreibt.
    Aber das ist ja bekannt.

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  3. Das berühmteste Gedicht? Hä? Das kann nur das vom Brettenbacher einst zu jeder, allerdings gewissen Stund, volltönig angehobene und dann noch crescendierend extemporierte SEIN BLICK IST VOM VORÜBERGEHN DER STÄBE/
    SOOO MÜD GEWORDEN......
    sein.

    ...erstaunlich eigentlich, dass man danach jahrelang immer n o c h müder werden kann..

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  4. ....und es kommt einem die ungeheure, die zwingende Lust an, SEIN UND ZEIT aufzuschlagen,
    und drinnen zu lesen wie in einem Buch !

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  5. Bei dieser passenden Gelegenheit erlaube ich mir etwas aus "dem jenseits der Unterhaltung" zu empfehlen. Meinerseits ist dies die derzeit einzigste wiedergewonnene Quelle "literarischer Bildung" nach der selektiven schulischen Auswahl, die nun schon etwas länger zurückliegt und damit teilweise reaktiviert wurde. Für mich eine hervorragende Fahrzeitverkürzung.
    http://reboot.fm/2013/09/27/grenzpunkt-null-33-gbenn-rmrilke-hpudelko-rj/
    leider ist der soundcloud link tot, z.T. findet man die Sendungen auf hearthis.at noch, nur jene speziell gerade nicht, schade.

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  6. @Brettenbacher:
    Ich bewundere Bonhoeffer als Person wie als Denker außerordentlich, aber in seiner onkelhaften Mahnung an die junge Braut, sich von Rilke-Lektüre fern zu halten, lag er aus meiner Sicht daneben. Ich neige dazu, das "konfessionspsychologisch" zu deuten: RMR war auf eine ganz bestimmte Art ein sehr katholischer Dichter (natürlich nicht im engeren kirchlichen Sinne), und seine Anhängerschaft dürfte auch überwiegend aus dem katholisch sozialisierten Milieu stammen. Wir Katholiken (also ich zumindest bin einer) sind, anders als die Protestanten, eher nicht Kopfmenschen, sondern kommen mehr über den Bauch und die Emotionen. Das wird durch die immer etwas "druidenhaft raunende", gleichwohl grandiose Poesie Rilkes gut bedient. Ein kognitiver, der Anstrengung und Logik des Begriffs verpflichteter Protestant wird damit weniger anfangen.

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  7. Längst nicht so bekannt wie "Herbst" und "Panter", für mich indes das allergrößte RMR-Gedicht: "Wunderliches Wort"!

    Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben!
    Sie zu halten, wäre das Problem.
    Denn, wen ängstigts nicht: wo ist ein Bleiben,
    wo ein endlich Sein in alledem?

    Sieh, der Tag verlangsamt sich, entgegen
    jenem Raum, der ihn nach Abend nimmt:
    Aufstehn wurde Stehn, und Stehn wird Legen,
    und das willig Liegende verschwimmt

    Berge ruhn, von Sternen überprächtigt;
    aber auch in ihnen flimmert Zeit.
    Ach, in meinem wilden Herzen nächtigt
    obdachlos die Unvergänglichkeit.

    Für die große Freiheitsdenkerin Hannah Arendt spielten diese Verse philosophisch eine Schlüsselrolle.

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  8. Cher Brettenbacher,

    Das ist keine Parodie, sondern eine Züchtigung.

    Finde ich ich nicht. Es ist eine Paraphrase, wenn man so will: eine Übersetzung aus dem "Hochliterarischen" in die Alltagswelt kleiner Leute. Marzik lag sicher alles andere am Herzen, als einen Rilke zu veräppeln! Und ich kann mir auch nicht vorstellen, daß sie ihn "züchtigen" wollte.

    Es ist wie in den Gleichnisse Jesu: "Mit dem Himmelreich verhält es sich wie ...". Wer wollte ernstlich den Himmel mit einer gefundenen Drachme etc. vergleichen? Und doch vergißt man das Gleichnis nie wieder.

    ... und es kommt einem die ungeheure, die zwingende Lust an, SEIN UND ZEIT aufzuschlagen, und drinnen zu lesen wie in einem Buch !

    Mich nicht. Und hier erfahren Sie, warum nicht!

    P.S.: die Gitterstäbe in Ehren ... ja, auch dieses Gedicht schätze ich sehr hoch! Der "Herbsttag" ist mir dennoch lieber.

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  9. Cher "Staunender",

    Sie könnten Ihren Nick in "Erstaunender" ändern, denn es ist Ihnen geglückt, ein von mir bislang (jahrzehntelang!) offenbar immer überblättertes Rilke-Gedicht zu meiner Kenntnis zu bringen.

    Danke!

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