Mittwoch, 4. November 2015

Hundert notwendige Gedichte XXIX — In memoriam Alfred Henschke

Man kennt ihn eigentlich nur unter seinem Pseudonym: »Klabund«. Und ich gestehe, daß ich mich mit vielen seiner Werke, auch vielen seiner Gedicht recht fremd fühle. Vieles wirkt aufgesetzt und unecht in seiner hektischen Bemühung, »anders« sein zu wollen. Und doch ...

Die Totenklage um seine früh verstorbene Lebensgefährtin Brunhilde Irene Heberle, die er — selbst sein Leben lang lungenkrank — in einem Sanatorium kennengelernt hatte, und die ihm ein Kind, ein bald nach ihrem Tode verstorbenes, geboren hatte, erschütterte ihn zutiefst und brachte als bittere, und doch tröstende Frucht einen Zyklus von dreißig Sonetten, zunächst (1920) als »Die Sonette auf Irene« erschienen, dann, in Klabunds eigenem Todesjahr 1928, als »Totenklage« neuerlich aufgelegt. Auch darin ist nicht jedes Gedicht von gleichem Wert — das letzte, das dreißigste also, ist aber ohne Zweifel tief empfunden (auch wenn die Bemerkung »Ich schrieb an jedem Tag dir ein Sonett« vermutlich nur dichterische Fiktion ist. Daß es abgrundtiefe Trauer war, die dem Dichter die Worte eingab, ist offensichtlich!), und soll daher zum Gedenken an den heute vor 125 Jahren, am 4. November 1890 an der Oder, in Ostmitteldeutschland,  geborenen Dichter stehen:

Der erste Monat, seit du starbst ist um.
Ich schrieb an jedem Tag dir ein Sonett,
Und bracht es abends an dein Himmelbett.
Du lauschtest ihm, die Augen zu und stumm.

Und glaubt ich, das es dich ermüdet hätt,
Verscheuchte ich des Bienenvolks Gesumm.
Du schliefst. Dein Schlaf war mein Martyrium.
Und dein Erwachen wird mein Amulett.

Und wen sein Mensch verließ am Wanderstab,
Dem reich ich ein Sonett zum kargen Trost.
Den tausend Tränen, die er weinte, gab

Die Schale ich. Die Gottheit wägt und lost.
Das höchste Glück sinkt in das tiefste Grab.
Der Strom der Ewigkeiten stürmt und tost.


Die Gefahren lyrischer Totenklagen sind vielfältig — und evident. Zu leicht gerät der Schmerz ins hohle Pathos, gefühlte Trauer in kunstvolle Inszenierung. Klabund fühlte es, und hebt im sechsten Sonett mit den selbstkritischen Worten an:
O Eitelkeit, wenn Schmerz zum Dichter wird,
Und Verse tropfend aus den Wimpern fließen. 
Doch fast alle dreißig Sonette*) kommen unbeschadet über diese Klippe — denn echte Klage und echte Dichtung sind in der Lage, auch auf oft gefährlich krummen Zeilen gerade zu schreiben.

Wir stehen zur Zeit (liturgisch, in den Traditionen des Ritus Romanus, gesehen) mitten in der Oktav von Allerseelen — also des Totengedenkens. Und wenngleich der unmittelbare Anlaß des Gedenkens an diesem 4. November eine »halbrunde« Wiederkehr eines Geburtstages ist, so drängt sich doch in der hereinbrechenden Dunkelheit auch der Jahreszeit Notkers altes »Media in vita in morte sumus« unabweisbar in unsere Gedanken. Also ist dieses Gedicht — wie jedes echte — ein rechtes Wort zur rechten Zeit ...


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*) Hier alle dreißig Sonette.







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