Freitag, 27. März 2015

Hundert notwendige Gedichte XXIV — Hölderlin


Hälfte des Lebens

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
   ..

Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.


Fast geniert sich LePenseur, dieses doch heute so wohlbekannte Gedicht Friedrich Hölderlins zu bringen. Sollte diese Serie nicht dem ihm wichtigen, doch eher weithin unbekannten Gedicht hoher und höchster Qualität gewidmet sein? Sicher, das war die Intention der »Hundert notwendigen Gedichte« — nur: so bekannt Hölderlins obiges Gedicht heute ist (d.h.: soweit überhaupt Gedichte im Allgemeinen und Hölderlin im Besonderen heute »bekannt« genannt werden können!), so unbekannt war es durch mehr als ein Jahrhundert nach seiner Entstehung — selbst von Hölderlin-Bewunderern unter die Produkte seiner Geisteskrankheit gerechnet, in Werkausgaben entweder ganz unterschlagen, oder doch in den Annex verbannt.

Und doch ist es einer jener Gedichte, die LePenseur, wie man so sagt, schon beim ersten Lesen »ins Herz trafen«, obschon er damals noch weit von der »Hälfte des Lebens« — selbst wenn ihn noch heute, was er nicht hofft, die Stunde schlagen würde — entfernt war.

Natürlich kann man dieses Gedicht analysieren, klügelnd interpretieren, in Kategorien zwängen — und hält dann einen sezierten Schmetterling in den groben Händen, dem die feinen Farbplättchen abgestreift wurden, und der damit einer ordinären Motte ähnlicher ist als dem bezaubernden Gaukelding, das über die Wiese schwebte ...

Der Leser möge entscheiden, ob ihm dieses Gedicht wert ist — und sei darauf hingewiesen, daß ein ganz anderes Gedicht zur Lebensmitte (die LePenseur, leider auch statistisch betrachtet, längst hinter sich gelassen hat ...) als nächster Eintrag dieser Serie folgen wird. Bis bald, also ...



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