Donnerstag, 29. Dezember 2016

Heute ... unter Palmen liegend

... und an einem Artikel über Rilke arbeitend: es gibt schlimmere Urlaubsbeschäftigungen ... weitaus schlimmere, glauben Sie mir!

Warum Rainer Maria Rilke? Nun: heute vor neunzig Jahren, am 29.12.1926, ist er verstorben, sodaß einige Gedanken zu ihm naheliegen. Wie gewohnt in bewußt subjektiver und unsystematisch-lockerer Art.

In seinen »Erinnerungen an Karl Kraus« bringt Sigismund von Radecki, dessen unlängst auf diesem Blog gedacht wurde, auch eine Bemerkung von jenem über Rilke:
Als Karl Kraus’ geniales Kompendium der Verschmocktheit „Literatur, eine magische Operette“, als Buch erschienen war, sagte er eines Tages: „Heute ist mir die beste Szene des ganzen Werkes eingefallen — und gerade, wo es schon gedruckt ist!“ Ich fragte, wie die Szene sei. — „Sie spielt im ersten Akt, gegen Anfang. Das Redegewirr im Kaffeehaus klingt gedämpfter — da springt eine Mänade von ihrem Stuhl auf, breitet die Arme gestreckt aus, ruft unvermittelt, ekstatisch »Rilke!!! ...«  und setzt sich wieder. Hierauf geht das Redegewirr weiter, wie wenn nichts geschehen wäre.“

Natürlich machte Kraus einen Unterschied zwischen Rilke und den Schmöcken, ja auch zwischen Hofmannsthal und ihnen, aber dennoch verursachte ihm das Preziöse und der Snobismus der beiden viel Unbehagen. Er versichterte mir, mit eigenen Augen einen Rilkebrief gesehen zu haben, wo in der Datierung „July“ mit Ypsilon geschrieben war! „Sechzigtausend Briefe hat er geschrieben und es ist dabei immer derselbe Brief. Als die Rede auf „Malte Laurids Brigge“ kamm, sagte Kraus: „Dieser Mann bewegt sich ständig zwischen acht Spiegeln.“
(Sigismund von Radecki, Bekenntnisse einer Tintenseele, S. 345)
Eines der bekanntesten (wenn nicht sogar das bekannteste) seiner Gedichte, der »Herbsttag«, wurde vor einigen Monaten hier (mit ein paar persönlichen Erinnerungs-Umständen) zitiert (eigentlich schon zum zweiten Mal, wenngleich beim ersten Mal eher süffisant in anderem Zusammenhang behandelt), und »Der König« ebenso. Zuletzt vor ein paar Stunden dann ein Liebesgedicht, das der geschätzte Kommentarposter »Brettenbacher« als zwar nicht als sein bestes, aber dafür schönstes qualifizierte ...

Ich gestehe, daß Rilke unter den Autoren seiner Generation (jetzt einmal ganz großzügig ca. ± 15 Jahre gerechnet, die zwischen ca. 1860-1890 geboren wurden) wohl unter den mir eher »fernstehenden« einzureihen ist. Trotz meiner Affinität zu Lyrik, trotz meiner starken Affinität zu einzelnen seiner Gedichte, steht er mir insgesamt eher fern: und je älter ich werde, desto mehr glaube ich den Grund dafür in genau diesem »Preziösen« zu erkennen, das mir vieles, ach so vieles von Rilke verleidet. Das soll (denn einen Rilke darf man mit Goethes Diktum über Euripides nur »auf Knieen tadeln«) fürwahr keine Geringschätzung bedeuten, nur die Erkenntnis einer recht weitreichenden — Inkompatibilität.

Andere mögen (und werden) das anders empfinden, und auch in meinem Bekanntenkreis, der meine prinzipielle Begeisterung für die Literatur dieser Generation kennt, stößt sie teilweise auf Befremden: warum Wertschätzung für »Sterne 2. und 3. Ordnung«, und dann Reserve gegenüber einem Sirius am Firmament der Lyrik? Wie kann man bloß einen Hans Carossa, einen Anton Wildgans loben, ohne bei Rilke dann aber in Ekstasen zu geraten? Nun, vermutlich genau deshalb.

Etwas Rätsel braucht die Lyrik: wo alles klar ist, ist auch meistens alles platt, Lehrgedichte (lassen wir einmal das barocke Massiv der Haller’schen »Alpen« beiseite) lehren manches, aber »dichten« kaum! Nur auch hier (wie in der Homoöpathie) macht die Dosis das Gift! Und bei mancher Duineser Elegie, bei manchem Sonett an Orpheus frage ich mich: ist das noch echt? Oder ist es »verrätselt«, um (ganz brutal gesagt) Eindruck zu schinden. So, wie Schönberg in seiner Harmonielehre den Fall schildert, daß ein junger Komponist bei ihm mit einer Komposition erschien, deren Thema sich in wildesten, rauschhaften Modulationen erging — doch, wenn man diese wegließ, völlig banal und nichtssagend war. Nicht, daß ich Rilke Banalität in rätselhafter Aufmachung unterstellen wollte ... aber bisweilen macht es fast den Eindruck, daß er dem Rausch seiner wohltönenden Worte erlegen wäre.

Alle Rilke-Liebhaber bitte ich, meinen relativ kühlen Ton der Bewunderung, doch nicht Begeisterung mir verzeihen zu wollen, und kann ihnen Begeisterung  — ja: Jüngerschaft — bloß von anderer Hand anbieten, von einem Dichter, der Rilke damals glühend verehrte, und den doch keiner mit ihm in irgendwelche Verbindung brächte: Louis Fürnberg. Auch seiner wurde auf diesem Blog gedacht (nicht seines berühmt-berüchtigten Parteiliedes natürlich), und aus Rilkes Todesjahr 1926 stammt dieses Gedicht, in dem der 17-jährige Schüler Fürnberg in trunkener Begeisterung das Zusammentreffen mit »seinem« Rilke schildert. Und nein, es ist wirklich kein schlechtes Gedicht geworden; manche Unreife wird durch die Lauterkeit seiner Verehrung wettgemacht, und insgesamt ist es in Wort und Diktion ebenso »Rilke« wie »Fürnberg«, und strahlt einen solch unmittelbaren Zauber aus, daß man sich fragt, warum es nicht weitaus bekannter geworden ist — als positives Beispiel von Panegyrik (negative gibt's ja zuhauf!) ...
Chateau de Muzot-sur-Sierre

Daß es ihn gibt! Und daß Chateau Muzot
auf Erden ist und nicht in andern Reichen!
Pack deine Tasche und sei wieder froh!
Reis hin zu ihm und bitt ihn um ein Zeichen.
Zwar bist du namenlos und nicht Paul Valery ...
doch so ein Mann ist oft voll Bonhomie.

Und sieh: schon fährst du, rauschst du, fliegst ihm zu!
Von tausend Taumeln ist dein Herz benommen.
Und eines Tages bist du angekommen
und nüchterst dich und fragst: wer bist denn Du,
daß du es wagst, du Nichts, was fällt dir ein?
Na paß nur auf — er läßt dich nicht herein!

Der kleine Bahnhof und ein weiter Weg.
Der Wagen rollt mit Poltern und Geratter.
Er hält. Die Burg! Da stehst du schon am Gatter!
Wagst du es wirklich, Niemand? Überleg!
Bist du dir klar, was dein Entschluß bedeutet?
Noch ist es Zeit, noch hast du nicht geläutet!

Da siehst du ihn. Er hat ein Taschentuch
zum Schutz vor Sonne um den Kopf gebunden.
Er kommt und fragt, wie du zu ihm gefunden
und läd dich Namenlosen zu Besuch.
Du hörst dein Herz in deinen Ohren tosen.
Du trittst ins Haus durch ein Spalier von Rosen.

O Dämmerung ... O die verfluchten Schuhe!
Die Diele knarrt ... Mein Gott, was soll ich sagen ...?
Lavendelduft ... Ich Dummkopf! Das zu wagen ...!!
Die hohen Stühle und die schwere Truhe,
der Bauernofen und die dicken Mauern ...
...„Mein alter Turm ... Hier läßt sich’s überdauern!“

Ein Sesselrücken und ein Niedersitzen.
Und dann die Stimme, die sehr lange spricht.
Die Augen viel zu groß für ein Gesicht
und die kalmückenhaften Schnurrbartspitzen ...
Die Handschuhhand streicht ständig sich das Kinn ...
und leise Worte voller fremdem Sinn ..

O zu verstehn! O etwas mitzunehmen!
ein einzig wort! Ich bin ja viel zu jung!
O stünd’ die Stund’! O so in Anbetung
ein Leben lang vor ihm dahinzuströmen
und seines Zauberworts gewiß zu sein!
Du bist bei IHM und bist mit IHM allein!

O zu verstehn! Die Stimme spricht und spricht
in einem fort, als fände sie kein Ende,
und alles spricht, das Kinn, die Handschuhhände,
die spitzen Brauen in dem Traumgesicht.
Doch dann ein Lächeln und ein Liderschlag:
„Sie schreiben Verse? ... Hm ... Sie sind aus Prag ...“

O wie zu stammeln! Daß ich’s nie gewagt ...
nie wagen würde! Daß ich meine Lieder ...
Die Stimme wartet nicht. Sie spricht schon wieder,
freundlich und leis, doch was man immer sagt,
wenn junge Dichter an die Türe pochen:
„Ich komme nicht dazu ... seit vielen Wochen

türmt sich die Post. Ich finde nicht einmal
die Kraft in mir, die Briefe aufzumachen.
Ich müßte meine Kraft vertausendfachen
für diese Manuskripte ohne Zahl.
Auch bin ich krank. Es wird ja nicht so bleiben ...
Ich säh es gern, wenn Sie mir einmal schreiben ...

im Herbst vielleicht ... ich will Sie nicht vergessen ...
Kein Wort von Störung ... denn ich sah sie gern ...
ich lebe hier ein bißchen menschenfern ...
da ist ein Plauderstündchen angemessen ...
Ihr Name noch ... ei schön ... nun guten Tag
und Reiseglück ins alte liebe Prag ...“

... ins alte liebe Prag! ... O Gott gibt Kraft
durch diese Rosenflut ins Tal zu stürzen!
Noch einmal tauchen aus den Wermutwürzen
so traummißratner Kinderpilgerschaft!

... Da taumelt er durch ein Spalier von Rosen,
der Namenlose zu den Namenlosen ...
Es wäre platter Zynismus, hier nun süffisant ein »Rilke!!!« zu flüstern. Und doch: genau hier, an diesem Grat liegt die Wasserscheide zwischen der ehrlichen Verehrung eines Bürgersohns aus gutem Haus (und das war der spätere Kommunist und »Arbeiterdichter« Louis Fürnberg ja!) und der geschmäcklerischen »Hingabe«, mit der eine sich elitär dünkende Literatur-Schickeria sich um den »Meister« scharte.

Kein Dichter kann etwas für die Verehrer, die er hat. Oder doch? Die Wahrheit wird auch hier, wie so oft (wenn  auch nicht immer!), in der Mitte liegen, und wenn: so hat sie der blutjunge Fürnberg um ein tüchtiges, ein entscheidendes Stück zurechtzurücken verstanden ...


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