Samstag, 4. Februar 2012

Alltagsgeschichte

Die gestrige Nachricht vom Ableben Cissy Kraners rief mir verschiedene Erzählungen aus meinem Familien- und Bekanntenkreis wieder ins Gedächtnis. Cissy Kraners bekanntestes Lied »Aber der Novak läßt mich nicht verkommen« ließ vor meinem inneren Auge einen Herrn Novak zum Leben erwachen, den ich zwar nur aus Erzählungen meiner Mutter — auch sie weilt längst nicht mehr unter uns — kannte; Erzählungen, die ich jetzt mit allen Ungenauigkeiten der oral history, ich weiß, zu rekonstruieren versuche.

Anknüpfungspunkt ist jene von uns Kindern »Tante Rosi« genannte Jugendfreundin meiner Großmutter, die in der Zwischenkriegszeit eine Trafik*) in der Wiener Taborstraße betrieb, also im 2. Wiener Gemeindebezirk »Leopoldstadt«, im Volksmund einst wegen der vielen dort lebenden Juden auch als »Mazzes-Insel« bezeichnet, denn dieser Bezirk bildet quasi eine Insel zwischen dem Hauptstrom der Donau und dem sogenannten »Donaukanal«. Wien, d.h. sein historisches Stadtzentrum, liegt seit den Regulierungsmaßnahmen des 19. Jahrhunderts nämlich nicht wirklich »an der Donau«, sondern am Donaukanal, den man euphemistisch manchmal auch »Kleine Donau« nannte ...

Und in dieser Trafik lernte die junge »Frau Rosi« wohl auch ihren späteren Mann, besagten Herrn Novak, kennen. Der seinerseits wieder ein Freund und einige Jahre lang sogar Geschäftspartner eines Bruders meiner Großmutter war. In jenen Jahren vor, während und nach dem 1. Weltkrieg, als die »Cinematographie« in Stummfilmen die Welt eroberte, betrieben sie ein — bald untergegangenes — »Kinofilm-Theater«. Und klein, wie die Welt ist, lernte Herr Novak, der in seinen angestammten Beruf als »Chemigraph« zurückgekehrt war, als Kollege bald meinen Großvater kennen, und über diese Arbeitsbekanntschaft auch meine Großmutter, die sich bei gemeinsamen Spaziergängen und Ausflügen mit der mittlerweiligen Frau Novak anfreundete. Daß meine Großeltern ein kleines Mädchen (meine Mutter nämlich) hatten, vertiefte die Beziehung zwischen den beiden Ehepaaren, denn die Novaks blieben zu ihrem großen Bedauern kinderlos.

Die (Wahl-)Tante Rosi, die trotz anfänglicher Bedenken ihrer jüdischen Angehörigen eine (bis eben auf die Kinderlosigkeit) glückliche Ehe führte, ließ sich erst in den 1930er-Jahren (und zwar römisch-katholisch) taufen, woraus man erkennen kann, daß das Bild eines schon vor der Nazizeit in Wien allgegenwärtig lauernden militanten Antisemitismus wohl nicht ganz der Realität entsprach. Denn nicht besonders glückliche Ehe meiner Großeltern zerbrach nach zehn Jahren, nicht jedoch die Freundschaft meiner Großmutter mit dem Ehepaar Novak, das an meiner Mutter »einen Narren gefressen« hatte — hübsch und aufgeweckt war sie ja, nach den Photos und Erzählungen zu urteilen ...

Nun, die bitteren Zeiten in und nach der Weltwirtschaftskrise hatten meiner Großmutter schwer zu schaffen gemacht. Als »Ausgesteuerte«, also nach dem Auslaufen des Arbeitslosengeldes, konnte sie sich nur durch Gelegenheitsarbeiten, Wäschewaschen etc., notdürftig über Wasser halten, und mein Großvater mit seinen kommunistischen Aspirationen, versuchte sein Glück als Gastarbeiter in der Sowjetunion — von wo er bald, deutlich weniger kommunistisch gestimmt, wieder zurückkehrte. Was man auch wieder als Glück im Unglück bezeichnen kann.

Im Jahr 1938, nach dem Einmarsch Hitler-Deutschlands in Österreich, versuchte mein Großvater in Berlin Arbeit zu bekommen, und meine Mutter lag meiner Großmutter so lange in den Ohren, bis sie ebenfalls in Berlin ihr Glück versuchen durfte. Und Glück hatte sie! Sekretärinnen waren gesucht — meine Mutter war unternehmungslustig, flink bei der Arbeit, nicht auf den Mund gefallen, aber höflich und wohlerzogen (sagte sie), und binnen Kürze das von allen verhätschelte Nesthäkchen im Büro. Mit »Wiener Schmäh« wickelte sie selbst die grantigsten Direktoren ein, sogar der über den »s-pitzen S-tein s-tolpernde« Leiter der Rechtsabteilung (aus Hannover gebürtig) taute auf ...

In Wien war das alles etwas anders. Der Anschluß brachte jede Menge »Märzgefallener«**) in alle möglichen Positionen, und die mußten ihren frischentdeckten Nationalsozialismus natürlich gleich mindestens 150%ig unter Beweis stellen! Die zahlreichen Juden aus Wien (in der »Provinz« gab's ja fast keine, außer in ein paar Gemeinden im — früher ungarischen — Burgenland) emigrierten schleunigst und taten gut daran. Denn die, die länger blieben, weil sie sich eine Auswanderung nicht leisten konnten, landeten vielfach im KZ, so auch die gesamte Familie der »Tante Rosi«.

Auch an den Herrn Novak traten forsch ein paar Nazi-Funktionäre heran, er solle sich doch von seiner »artfremden« Frau scheiden lassen. Doch Novak hatte Charakter — und wies ihnen mit einem kurzen »Wenn sie zwanzig Jahre lang gut genug für mich war, wird sie auch weiter gut genug für mich sein!« die Tür. Frau Novak hatte natürlich sofort ihre Trafik verloren (durch »Arisierung« an einen »Parteigenossen«) und hielt sich (so wie in den Jahren davor meine Großmutter) mit Wäschewaschen, Putzfrauen-Tätigkeit und dergleichen über Wasser. Und, Glück im Unglück, fand sie bald »unter der Hand« eine fixe Beschäftigung bei einer Dame, die mit ihr »gut konnte«, obwohl (oder weil?) sie die Frau eines SS-Offiziers war. Und dieser hielt — auch das gab's damals! — all die Jahre bis 1945 seine schützende Hand über sie und ihren couragierten Mann. Tante Rosis Familienangehörige hatten freilich nichts davon (oder reichte sein Einfluß nicht weit genug), sie sind alle im KZ ums Leben gekommen.

Als meine Mutter wieder einmal in Wien auf Besuch war, fragte sie meine Großmutter nach Tante Rosi. Und als sie ihr verlegen eingestand, daß sie »wegen der jetzigen Umstände« deutlich weniger Kontakt zu ihr hätte, war meine Mutter empört und verabredete sich mit Tante Rosi zu einem Konzertbesuch. Meine Mutter hat mir das Zusammentreffen mehrfach geschildert ... wie betreten Tante Rosi war, als im Foyer meine Mutter, eine prototypisch »deutsche« junge Frau mit ihren blonden Locken und blitzblauen Augen, voll Elan und Selbstbewußtsein auf sie zutrat und sie ungeniert begrüßte, sie, die sich am liebsten unsichtbar gemacht hätte und krampfhaft ihr kleines Handtäschchen so zu halten versuchte, daß man ihren Judenstern nicht sah.

Nein, meine Großmutter war keine Heldin des antifaschistischen Widerstandes — das wäre, nach zehnjähriger Arbeitslosigkeit endlich wieder berufstätig (noch dazu in einem »Amt«, also in »unkündbarer Stelle«, was ihr freilich 1945, als die frischgewendeten »Widerstandskämpfer« mit dem SPÖ-Parteibuch einzogen, auch nichts geholfen hat), vielleicht etwas zu viel verlangt gewesen. Wer jahrelang an der Hungergrenze, von Gerichtsvollzieher und Delogierung wegen nichtbezahlbarer Mietrückstände etc. bedroht, dahinvegitieren mußte, der hat dann oft nicht denn Mumm, auf »edel sei der Mensch, hilfreich und gut« zu mimen. Und auch meine deutlich »nonkonformistischere« Mutter meinte im Rückblick, daß sie in den Jahren 1938-45 mehr Glück als Verstand gehabt hätte, und wohl nur deshalb — und wegen ihres Aussehens und charmanten Wesens — ohne gröbere Probleme durchgekommen sei.

In der Nachkriegszeit blühte die Freundschaft meiner Großmutter mit Frau Novak wieder auf — der »Herr Novak« muß wohl bald nach dem Krieg, oder spätestens in den frühen 1950er-Jahren verstorben sein, denn, wie gesagt, ich habe keinerlei persönliche Erinnerungen an ihn. Und abwechselnd — gemeinsam wäre nicht gutgegangen! — mit der Tante Litschi (d.i. »Caroline«), einer Cousine meiner Großmutter und ebenso geschwätzig wie beschränkt, kam »Tante Rosi« am Wochenende auf Besuch, und erfreute uns Kinder mit »Bensdorp«-Schokolade (die kleinen Riegel für einen Schilling) und »Stollwerck«-Karamellen. Als meine Großmutter später von Wien wegzog, beschränkte sich der Kontakt auf seitenlange Briefe, in denen Tante Rosi unter anderem schrieb, daß meine Großmutter sie in Wien nicht mehr besuchen kommen solle, da sie zu gebrechlich sei und das Wiedersehen soviele Erinnerungen in ihr wach werden ließe, daß sie sich dem nicht gewachsen fühle. War es später Groll wegen der doch wenig mutigen Rolle meiner Großmutter im Zweiten Weltkrieg? Ich weiß es nicht ... nur: daß ich — peinlich berührt, wie man als Jugendlicher halt ist bei solchen Szenen — einmal miterlebte, wie die zwei nach einem Besuch noch im Stiegenhaus weinend einander in den Armen lagen, und sich minutenlang nicht wieder beruhigen konnten ...

Warum erzähle ich das alles eigentlich? Ach, ja: »Ob angezogen oder als a Nackter, der Novak hat am ganzen Leib Charakter ...« ... in der Tat, unser Herr Novak hatte wirklich Charakter! Und bewies, daß man auch die Nazizeit mit Zivilcourage überleben konnte (vorausgesetzt man hatte etwas Glück). Und daß damals vielen die Zivilcourage deutlich gemangelt haben dürfte, weshalb die Nazis (und die vielen »Uncouragierten«) ein umso leichteres Spiel hatten. Und daß, wie man derzeit sehen kann, Zivilcourage wohl auch heute noch selten ist. Denn das ganze Gerede von der »Zivilgesellschaft« ist leeres Geschwätz, wenn sich diese auf das Einrennen offener Türen beschränkt. Wenn darunter »Charity«, »Life Ball«, »Lichterketten gegen Rechts« und ähnlich gratismutiger Aktionismus verstanden wird.

Zivilcourage ist was anderes. Nicht der von HeiFisch dem Strache verweigerte Ordensstern. Nicht die feuilletonistisch aufbereitete Kolumne, in der über die erschreckende Zunahme der Fremdenfeindlichkeit gegutmenscht wird. Sondern die Haltung des Herrn Novak. Die deutlich riskanter ist. Und deshalb auch so selten ...

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*) »Trafik« oder »Tabak-Trafik« ist bis heute die österreichische Bezeichnung für die kleinen Tabak- und Zeitungsläden, ehedem offiziell »Tabak-Verschleißstellen der Österreichischen Tabak-Regie« genannt.

**) So nannte man in Österreich etwas abschätzig jene (nicht gerade seltene) Spezies von Menschen, die im März 1938 auf einmal entdeckten, daß sie doch immer schon dem Nationalsozialismus gedanklich nahegestanden wären — wenn, ja wenn halt nicht früher die Umstände, na, Sie wissen ja ...

5 Kommentare:

  1. Volle Zustimmung zur Conclusio! Das an der Stelle aber nur, weil ich mich für die Erzählung dieser Alltagsgeschichte bedanken wollte.

    Beste Grüße, Calimero

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  2. Danke sehr für die Alltagsgeschichte. Menschlich sehr berührend. Bitte verzeihen Sie mir, daß ich gewohnheitsmäßig zu analysieren beginne:

    Uns stehen in Europa ähnlich tiefgreifende Umwälzungen im Zusammenhang mit der Etablierung des Kalifats bevor. Als Angehörigen der zukünftigen Minderheit, welche sich sowohl im körperlichen Erscheinungsbild als auch religiös von der neuen Herrenrasse unterscheidet, interessiert mich das Schicksal der Minderheit:

    - Wie sicher ist es, daß ALLE "minderheitsangehörigen" Familienmitglieder der Frau Novak im Lager umgekommen sind? Wer hat das gesagt, wie verläßlich ist diese Aussage?

    Thema Flucht ins Ausland: Wodurch wird diese erleichtert?

    - Verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen zu Angehörigen derselben Minderheit im Zielland?
    - Fremdsprachenkenntnisse? Wurden (mehrere? welche?) Fremdsprachen schon mit Kleinkindern geübt?
    - Wurde schon bei der Berufswahl Augenmerk auf geografische Flexibilität gelegt? Für einen Landwirt ist es fast unmöglich, alles aufzugeben und in einem fernen Land ganz neu anzufangen. Ein Arzt, Friseur, Schuster, Schneider, Goldschmied, Geldwechsler etc. hat es wohl leichter?
    - "Einüben" dieser Flexibilität schon rechtzeitig durch regelmäßige längere Aufenthalte im Ausland, mit Erwerbstätigkeit dort, in Zusammenarbeit (und Zusammenleben? Familienanschluß?) mit der dortigen Minderheit?
    - ???

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    1. @Nescio:

      Wie sicher ist es, daß ALLE "minderheitsangehörigen" Familienmitglieder der Frau Novak im Lager umgekommen sind? Wer hat das gesagt, wie verläßlich ist diese Aussage?

      Wie ich schon eingangs schrieb: »oral history« — eben mit allen Vor- und Nachteilen. Daß alle jüdischen Angehörigen ins KZ kamen hörte ich von meiner Großmutter und meiner Mutter (die es vermutlich nur von ersterer wußte). Daß die »Tante Rosi« in den 1960er-Jahren völlig vereinsamt in Wien lebte, habe ich mit eigenem Erleben mitbekommen. Mag sein, daß vielleicht einer ihrer Angehörigen das KZ irgendwie überlebte und bald darauf starb, oder vor dem Abtransport Selbstmord verübte ... mag sein, aber ich weiß es nicht.

      Und ist das letztlich nicht ziemlich egal ...?

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  3. Ganz egal ist es nicht. Ich versuche nämlich Überlebenskonzepte für vergleichbare Umwälzungs-, Revolutions- oder Anarchie-Szenarien zu entwickeln.

    Dabei ist für mich die Überlebenswahrscheinlichkeit wichtig. Für die, die da bleiben, verglichen mit jenen, die abhauen.

    Und daraus folgt die Lehre für mich und meine Nachkommen, in vergleichbaren Situationen: Dableiben oder abhauen ...

    So verfolge ich die Entwicklung überall, wo Minderheiten dem Untergang geweiht sind. ZB in Südafrika (wie davor schon in Rhodesien):
    Zuerst kamen die verstreut lebenden Farmer dran. Leichte Beute. Jetzt geht es aber auch schon denen an den Kragen, die sich zitternd in bewachte Wohngegenden hinter Stacheldraht geflüchtet haben.

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  4. Das erinnert mich an folgende Geschichte meiner Mutter (JG. 1930; kurze Vorgeschichte: Ihre Mutter stammt aus Fischamend und ihr Vater aus Rußland; aufgewachsen ist meine Mutter in Nordserbien, in der Vojvodina): Kurz vor dem Krieg war meine Mutter mit meiner Großmutter wieder einmal auf Verwandtenbesuch in Fischamend. Dabei hat sie sich einen Kratzer zugezogen, der zu eitern angefangen hat. Also ist meine Großmutter mit ihr zu ihrem alten - jüdischen - Hausarzt gegangen, damit der meine Mutter behandelt. Der hat die Tür aufgemacht und erstaunt gemeint: "Daß Sie sich hertrauen bei Tag - meine anderen Patienten (also de facto ein guter Teil Fischamends, Anm.) kommen nur im Dunkeln zu mir." So viel zur grassierenden "Judenfeindlichkeit" auf dem Land.

    In Wien waren die Dinge sicher anders; jüdische Bekannte, die nach dem Anschluß Österreich verlassen haben, haben nach dem Krieg meiner Mutter gesagt: "Als wir in Berlin aus dem Zug gestiegen sind, haben wir gedacht, wir sind im Ausland - so freundlich waren die Leute."

    LG,
    Tom

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