Das politische System, bestehend aus Marionetten der Parteien und komplett beherrscht vom Beamtentum in den Ministerialverwaltungen, versuchte in dieser Krise gar nicht erst Reformen, sondern baute eine gigantische Scheinwelt auf. Der Staat begann sich zu verschulden, um marode Unternehmen und Banken zu retten und die Umweltzerstörung zum unproduktivsten Arbeitsbeschaffungsprogramm aller Zeiten zu machen.Genaugenommen kann ich selbst mit intensivem Hinschauen hier keine großen Unterschiede zu europäischen Verhältnissen entdecken ... ... aber sehen wir mal weiter, was da kommt:
Die Desinformation wurde in allen Lebensbereichen zum Programm, und eine weitgehend gleichgeschaltete Presse, die keinen investigativen Journalismus kennt, berichtete nur, was aus den PR-Abteilungen der Ministerien kam.
Diese Verblendung und Verleugnung auf höchstem Niveau funktionierte bisher allerdings nur, weil die Japaner die Tugenden der Höflichkeit, Gleichmut und Ordentlichkeit, die viele Kommentatoren gerade an ihnen bewundern, so sehr verinnerlicht haben.Verstehe! Kein Versuch mehr, in Fukushima »den Führerbunker zu verteidigen« (leider ist mir der Name des ARD-Reporters nicht mehr präsent, der das vor ein paar Tagen so charmant formuliert hatte), kein sinnloses »Betonieren der Küsten und Flüsse, das in den 90er-Jahren als Konjunkturprogramm gestartet wurde; der Bau unzähliger nutzloser und viel zu groß dimensionierter Straßen und Brücken« (wie es Reginald Grünenwald auf W.O. formuliert. »Sonst wird das Land nie in der Moderne ankommen.«
Man könnte es aber auch Apathie, Gleichgültigkeit und Passivität nennen. Jetzt muss jedenfalls Schluss sein mit höflich! Japan braucht nach dieser Katastrophe, wie schlimm sie auch noch werden mag, endlich eine lange überfällige kulturelle, soziale und politische Revolution. Sonst wird das Land nie in der Moderne ankommen.
In welcher Moderne, wenn man fragen darf? So eine japanische Apathie und Gleichgültigkeit, mit der höfliche und ordentliche Kraftwerksarbeiter damit beschäftigt sind, Wasser in austrocknende Kraftwerksbecken zu pumpen, muß dingend durch europäische Geschäftigkeit im Organisieren von Lichterketten und Anti-Atom-Demos ersetzt werden! Japan braucht mehr unappetitliche Panikmache und Sensationsberichterstattung — die Beben- und Tsunamiopfer sollen sich nicht so haben: statt Wiederaufbau und Schadensbegrenzung sind gefälligst Demos und Aufmüpfigkeit angesagt! Damit Japan beim nächsten Erdbeben und Tsunami sich endlich mit der Effizienz von Indonesien 2004 oder Haiti 2010 seiner Modernität erfreuen kann.
Herr Grünenberg ist sicher ein Name, den man sich merken sollte: solche Genies der Lageanalyse dürfen nicht einfach im Feuilleton einer Zeitung (und sei sie auch ein Qualitätsmedium wie W.O.) vergammeln, sondern brauchen große Aufgaben: deutscher Fukushima I-Beauftragter wäre eine solche! Am besten direkt vor Ort, um den höflichen und ordentlichen Kraftwerksarbeitern zu erklären, warum Wasserpumpen unter Strahlenbelastung und rund um die Uhr nur Selbstbetrug ist. Ich könnte mir vorstellen, daß es ihm gelingen könnte, daß wenigstens einige Japaner endlich Schluß machen mit höflich. Und ihn als das bezeichnen, was er ist ...
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P.S.: Manfred Jacobi hat für die Irrationalität des deutschen politisch-medialen Komplexes einen perfekt passenden Vergleich gefunden: »Man stelle sich folgende Analogie vor: Ihr Bekannter XY hat in Australien einen Autounfall. Ein anderer Verkehrsteilnehmer hat ein Stopp-Schild überfahren und ist in das Auto Ihres Bekannten gekracht. Frage: Würden Sie jetzt Ihr in Europa stehendes Auto in die Werkstatt bringen und die Bremsen überprüfen lassen? Oder noch krasser: Sie verkaufen Ihr Auto und gehen ab jetzt zu Fuß. Schließlich könnte auch jemand in Europa ein Stopp-Schild überfahren.«
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P.P.S.: Auf »Zettels Raum« gibt es wieder eine Aktualisierung der Lage vor Ort. Und darin auch eine kurze Passage über die unrühmliche Rolle unserer Medien. Zettel, ganz Wissenschaftler, hält sich kurz und knapp:
Wenn man den Ton der Berichterstattung von NHK mit dem vergleicht, was die hiesigen Medien ihren Zuschauern bieten, dann glaubt man in eine andere Welt einzutreten. Hier in Deutschland ist das Rahmenszenario: "Es wird alles immer schlimmer". In Japan wird nüchtern und mit technischem Sachverstand berichtet, wie man Schritt für Schritt dieses schweren Störfalls Herr zu werden versucht.Und schließt mit folgender Bemerkung:
In Deutschland wird uns ein Realität gewordener Katastrophenfilm vorgeführt; je Schlimmeres sie berichten können, umso mehr scheinen diese Journalisten aufzublühen. In Japan erfolgt die Berichterstattung so, wie Journalismus sein sollte: Der Zuschauer erfährt die Fakten; Experten erklären sie ihm.
Ein Erfolg der jetzigen Maßnahmen ist auch heute noch nicht garantiert. Aber von einer "nuklearen Katastrophe" ist Fukushima Daiichi jetzt weiter entfernt als irgendwann seit der Naturkatastrophe vor fast einer Woche.
Wenn Sie sich jetzt über den tatsächlichen Sachstand informiert haben, dann gehen Sie vielleicht einmal zu "Welt-Online" und lesen Sie dort den momentanen Aufmacher, publiziert um 17.29 Uhr. Überschrift: "ATOMARE KATASTROPHE - 20 Kamikaze gegen die Höllenmaschine Fukushima". Teaser: "Japan versucht alles im Kampf gegen die Katastrophe. Das letzte Aufgebot scheint eine Gruppe von Technikern zu sein, die auf Himmelfahrtskommando gehen".Ich sage dazu nur: mindestens Stärke 9 auf der nach oben offenen Max-Liebermann-Skala ...
Guter Artikel! Das letzte Aufgebot - war das nicht als der Schnauzbärtige ein paar Halbwüchsige zur alles entscheidenden Großoffensive, also zum bevorstehenden Endsieg verabschiedete?
AntwortenLöschenUnd solche Sachen stehen in der W.O.? Immerhin der "Endsieg" der Japaner ist jedenfalls weitaus näher als der in Berlin 1945 jemals sein konnte.