Donnerstag, 6. April 2023

Über zehn Jahre her ist es nun

von LePenseur
 
 
... daß der von mir geschätzte — und im Kreis der »Amtsbrüder« durchaus »umstrittene« — evan-gelische Theologe Hermann Detering die folgenden Betrachtungen schrieb:
Matthias Claudius und die Nebel von Wandsbeck
 
Karl Eugen Neumanns Anmerkungen zu den von ihm übersetzten und herausgegebenen Buddha-Reden stecken immer voller Überraschungen. Seiner immensen Belesenheit ver-danken wir erstaunliche Parallelen, frappierende Querverbindungen und ganz nebenbei eine vertiefte Einsicht darin, wie viel „Buddhismus“ auch in uns, d.h. in unserer west-lichen Kultur und Literatur, steckt – oder doch zumindest einmal steckte, bevor man dort sein Heil in oberflächlichem Materialismus und hemmungslosem Konsum zu suchen begann. Bisweilen bringt Neumann Dichter und Literaten mit buddhistischen Anschau-ungen in Verbindung,  die wir in diesem Umfeld nie vermutet hätten. Matthias Claudius zum Beispiel, von dem Neumann die Verse eines Gedichts zitiert, das ich hier als Ganzes wiedergebe
Eine Welt der Stille tut sich auf, wenn man den Text liest. Und eine überraschende Sicht auf Matthias Claudius, etwa wenn Detering schreibt:
Lesebuchautoren haben es nicht leicht. Ich meine jene Schriftsteller, Dichter und Literaten, die es irgendwann geschafft haben, in den Olymp des deutschen Schul-Lese-buchs aufgenommen zu werden. Da stehen sie nun, ihre Texte, auf fettverschmierten Seiten mit Eselsohren, in Büchern, die nach Pausenbroten, Mettwurst, Schweiß und Käse riechen. Schlimmer noch als das unwürdige Umfeld aber ist, dass auf diesen Texten zeitlebens ein Mehltau von Erinnerungen an blaue Briefe und versemmelte Klassen-arbeiten liegt. Und dass wir diese Texte, weil sie nun einmal auf dem Lehrplan standen, selten  selber entdecken durften  und uns darum auch nie ganz zu eigen machen konnten. Und in unserer Vermessenheit später glaubten, ihre Verfasser immer schon zu kennen, aber wir kannten sie natürlich nicht. 
 
Auch Matthias Claudius ist dieses Schicksal nicht erspart geblieben. Der Verfasser von „Der Mond ist aufgegangen“ war schnell abgetan, weil in den sechziger und siebziger Jahren anderes interessierte als Volkslieder, deutsche zumal. Wie ungerecht das war, zeigt sich, wenn wir eine Gesamtausgabe seiner Werke zur Hand nehmen und mit unserem durch Erfahrung und Alter geschärften Blick ein wenig in den bunt gemischten Artikeln des Wandsbecker Boten herumblättern. Wir bemerken schnell, dass der ver-meintliche Lesebuchlangeweiler in Wahrheit nicht nur sehr unterhaltend sein konnte, sondern auch ein Stilist reinsten Wassers war. Die mühelose Leichtigkeit und zugleich Schlichtheit seiner Verse und Prosa suchen in der deutschen Literaturgeschichte ihres-gleichen. Hinzu kommt eine für deutsche Verhältnisse ungewöhnliche Verspieltheit. Man merkt: der Mann schreibt nicht nur frei, er ist es auch.
Und deshalb wurde dies auch von Hermann Detering, der ebenso frei war, so treffend erkannt. Und er gibt uns damit einen Fingerzeig (wie in vielen seiner Schriften), wie man an Texte heranzugehen habe: mit Respekt wohl, aber ebenso auch: mit Freiheit. Und mit dem Mut, Täuschungen zu ent-täuschen ...

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