Samstag, 26. Oktober 2019

Eigentlich ist es viel zu früh


... zu Ende Oktober — ein Weihnachtsgedicht? Was soll denn das! Ja, aber ... das hier ist wohl mehr als ein Weihnachtsgedicht:
Und wieder nun lässt aus dem Dunkeln...
Und wieder nun lässt aus dem Dunkeln
Die Weihnacht ihre Sterne funkeln!
Die Engel im Himmel hört man sich küssen
Und die ganze Welt riecht nach Pfeffernüssen...

So heimlich war es die letzten Wochen,
Die Häuser nach Mehl und Honig rochen,
Die Dächer lagen dick verschneit
Und fern, noch fern schien die schöne Zeit.
Man dachte an sie kaum dann und wann.
Mutter teigte die Kuchen an
Und Vater, dem mehr der Lehnstuhl taugte,
Saß daneben und las und rauchte.
Da plötzlich, eh man sich's versah,
Mit einem Mal war sie wieder da.

Mitten im Zimmer steht nun der Baum!

Man reibt sich die Augen und glaubt es kaum ...
Die Ketten schaukeln, die Lichter wehn,
Herrgott, was gibt's da nicht alles zu sehn!
Die kleinen Kügelchen und hier
Die niedlichen Krönchen aus Goldpapier!
Und an all den grünen, glitzernden Schnürchen
All die unzähligen, kleinen Figürchen:
Mohren, Schlittschuhläufer und Schwälbchen,
Elefanten und kleine Kälbchen,
Schornsteinfeger und trommelnde Hasen,
Dicke Kerle mit roten Nasen,
Reiche Hunde und arme Schlucker
Und Alles, Alles aus purem Zucker!

Ein alter Herr mit weißen Bäffchen
Hängt grade unter einem Äffchen.
Und hier gar schält sich aus seinem Ei
Ein kleiner, geflügelter Nackedei.
Und oben, oben erst in der Krone!!
Da hängt eine wirkliche, gelbe Kanone
Und ein Husarenleutnant mit silbernen Tressen -
Ich glaube wahrhaftig, man kann ihn essen!

In den offenen Mäulerchen ihre Finger,
Stehn um den Tisch die kleinen Dinger,
Und um die Wette mit den Kerzen
Puppern vor Freuden ihre Herzen.
Ihre großen, blauen Augen leuchten,
Indes die unsern sich leise feuchten.
Wir sind ja leider schon längst "erwachsen",
Uns dreht sich die Welt um andre Achsen

Und zwar zumeist um unser Büro.
Ach, nicht wie früher mehr macht uns froh
Aus Zinkblech eine Eisenbahn,
Ein kleines Schweinchen aus Marzipan.
Eine Blechtrompete gefiel uns einst sehr,
Der Reichstag interessiert uns heut mehr;
Auch sind wir verliebt in die Regeldetri
Und spielen natürlich auch Lotterie.
Uns quälen tausend Siebensachen.
Mit einem Wort, um es kurz zu machen,
Wir sind große, verständige, vernünftige Leute!

Nur eben heute nicht, heute, heute!

Über uns kommt es wie ein Traum,
Ist nicht die Welt heut ein einziger Baum,
An dem Millionen Kerzen schaukeln?
Alte Erinnerungen gaukeln
Aus fernen Zeiten an uns vorüber
Und jede klagt: Hinüber, hinüber!
Und ein altes Lied fällt uns wieder ein:
O selig, o selig, ein Kind noch zu sein!

Es ist ein Gedicht über das Leben schlechthin, und so wohl auch ein Gedicht über das Leben und — heute vor neunzig Jahren, am 26. Oktober 1929 — nicht-länger-Leben von Arno Holz, von dem auf diesem Blog bereits eines der »Hundert notwendigen Gedichte« gebracht wurde. Heute vor neunzig Jahren ist er also gestorben — ziemlich vergessen und in dürftigen Verhältnissen. Und bis zuletzt beschäftigt mit Plänen und Vorhaben. Ein Idealist (der freilich in seinem Leben seine Ideale mehrfach gewechselt hat), und ein Poet dazu — trotz all dem oft so drögen Naturalismus, den er mit seinem Co-Autor Schlaf auf die Bühnen Deutschlands stellte, und den schon in den 1920ern so keiner mehr recht sehen wollte.

Eine, könnte man meinen, gescheiterte Existenz. Und doch eine, die bspw. das obige Weihnachtslied schreiben konnte, das eine Brücke zu schlagen vermag zwischen den romantischen eines Emanuel Geibel zu Beginn seines Lebens, und den sachlich-distanzierten eines Erich Kästner zu dessen Ende.

Und so trotz aller Fehlschläge und Bitternis eine gelungene ...


4 Kommentare:

  1. Weihnachtsgedichte im Oktober sind wie Sex vor der Ehe.

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  2. @arminius

    aber nicht halb so lustig ;-)

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  3. Sex vor der Ehe macht besonders viel Freude. Auch wenn uns das die Spaßbremsen par excellence, die Hochwürdigen Herren der Heiligen Mutter Kirche, die sich besonders gerne in die intimen Bereiche des persönlichen Lebens reinmischen, verbieten. Anstatt solches zu tun, wären sie besser beraten, sich um ihr ureigenes Intimleben zu kümmern. Da haben sie jede Menge vor der eigene Tür zu kehren.

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  4. Werter Da schau her!,
    wenn die Hochwürdigen unter ihren muffigen Kutten irgendwas dazu zu palavern haben, geht das aber den meisten hier zum Glück für alle Beteiligten sowas von am Heck vorbei, dass man das bereits als Ignoranz bezeichnen kann. Viel schlimmer ist die Ansicht anderer Religionsverbreiter, die es schaffen, durch allfreitägliche Hirnwäsche Vätern und Brüdern einzuhämmern, dass sie die Ehre ihrer Familie nur aufrecht erhaltten können, wenn sie ein weibliches Familienmitglied, was solches wie Sex vor der Ehe auch nur anzudenken wagt, sofort möglichst öffentlich dahinzuschächten sei.
    MfG Fragolin

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