Freitag, 25. August 2017

»Nachts unter der steinernen Brücke«

Wohl niemand, der sich auf diesen kunstvoll gebundenen Kranz von Einzelerzählungen, die sich zu einem im Verlauf des Lesens geradezu magisch zwingenden Ganzen fügen, einmal eingelassen hat, wird ihn je vergessen. Und doch wäre das Buch fast nicht erschienen: nach vielen, demütigenden Vertröstungen und Absagen hatte der Autor 1953 zwar endlich einen Verlag gefunden, der es verlegen wollte — doch dann ging die »Frankfurter Verlagsanstalt« in Konkurs! Die bereits gedruckten Bögen der Erstauflage wären beinahe an ein Großantiquariat verramscht worden, trotz der fast hymnischen Kritiken, die die vorab geschickten Rezensionsexemplare erzielt hatten. Erst am 7. Juni 1957, knapp drei Monate vor dem Tod des Autors, fiel die Entscheidung der »Europäischen Verlagsanstalt«, die den Erstverleger aus dem Konkurs aufgekauft hatte, das Buch trotzdem im Herbst 1957 unter den Neuerscheinungen zu präsentieren. Der Autor sollte es nicht mehr erleben …

(Er mußte — Gott sei Dank! — auch nicht mehr erleben, daß Jahrzehnte später dieses tiefgründige Meisterwerk von dtv in der Reihe »Schauerromane« neu herausgebracht wurde.)


Trotz aller früheren Erfolge umweht Leo Perutz, den heute vor sechzig Jahren, am 25. August 1957, verstorbenen Dichter (ja: Dichter! Wer die Poesie von »Nachts unter der steinernen Brücke« schaffen konnte, der verdient dieses Prädikat mit vollem Recht), eine tiefe Tragik. Die Tragik eines durch äußere Verhältnisse und Mißgeschicke gebrochenen Lebens, die seine Biographin Ulrike Siebauer zum Schluß ihres Werkes in die Worte kleiden wird:
Leo Perutz hatte sein wahres Leben vor dem Exil gelebt. Die letzten 19 Jahre seines Lebens war er Überlebender.
(Siebauer, Leo Perutz, S. 297)
Wer war, wer ist uns heute, dieser Leo Perutz eigentlich? Die biographischen Details mögen dem umfangreichen, gut und informativ gestalteten Artikel in Wikipedia entnommen werden.

Hier geht es um die Charakteristik seines Schaffens, um einem lange beinahe vergessenen Dichter seinen berechtigten Rang nicht bloß für Lexika und Literaturgeschichten, sondern auch in den Buchregalen zurückzuerobern zu helfen. Denn diese Werke, die mittlerweile (wenigstens als Taschenbücher) wieder fast vollzählig im Handel sind, verdienen in der Tat eine Wiederentdeckung.

Der »Brotberuf«, von dem Leo Perutz in jüngeren Jahren, aber insbesondere in seiner Zeit als »Überlebender« in Israel auch tatsächlich leben mußte, also die Versicherungsmathematik, die er um die »Perutz’sche Näherungsformel« praktisch-wissenschaftlich bereichert hatte, ist für das dichterische Schaffen insofern bedeutsam, als dieser kühl-analytische Zug, der einem Mathematiker notwendig eignet, für die Komposition seiner Romane (vielleicht mit Ausnahme von »Nachts unter der steinernen Brücke«) höchst charakteristisch ist. Die Handlung schreitet mit logischer Unerbittlichkeit voran, scheint sich in jedem Kapitel aufs neue zu verwirren, doch auch diese Verwirrungen lösen sich wieder logisch auf — und man wartet gespannt (und verwirrt), wie »das Ganze« schließlich zu einem befriedigenden Abschluß gebracht werden kann. Und man wartet bis zum Ende des Buches, aber nicht vergebens: auf den letzten Seiten kommt es zu einer überraschenden Auslösung, mit der man kaum mehr rechnen wollte. Freilich: die Unart, am Ende eines Buches kurz nachzuschauen, »wie’s ausgeht«, die sollte man sich bei Leo Perutz doch besser verkneifen …

Doch genau dieses raffinierte Spiel mit der Spannung hat zwar den Auflagezahlen seiner Bücher vor der Nazizeit geholfen, jedoch den Autor in den Augen von Germanisten und Literaturkritikastern obskur gemacht: was erlauben, Literatur so ganz einfach spannend zu schreiben, und nicht in einer Aura von gepflegter Langeweile und gekünstelter Unverständlichkeit zu ertränken?! Und »spannend« sind sie alle, ohne Frage!

Wobei die Art der Spannung, in die einen bspw. der Roman mit dem in den 20er-Jahren geradezu redensartlich gewordenen Titel »Wohin rollst du, Äpfelchen ...« — der in Fortsetzungen in der Berliner Illustrirten Zeitung erschien und Perutz' Namen weiten Kreisen bekannt machte — versetzt, doch eine ganz andere ist, als die des »Marques de Bolibar« — der sicherlich zu den reifsten Werken von Leo Perutz zu zählen ist. Und wieder anders die des »Schwedischen Reiters«, dessen Schluß den Leser mit wehem Herzen zurückläßt.

Das Jahrzehnt zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Tod seiner ersten Frau Ida (1928) war wohl die erfolgreichste und glücklichste Zeit im Leben des Autors: literarische Erfolge begleiteten sein privates Glück, das die über alles geliebte Frau, die es mit glücklicher Wesensart verstand, Ruhe und Geborgenheit in das zuvor recht unstetige Leben des Dichters zu bringen, ihm bescherte. Zwei Töchter wurden geboren, kurz nach der Geburt des einzigen Sohnes Felix starb sie, was später wohl auch die Entfremdung zwischen Vater und Sohn begründen mag. Perutz hatte es unbewußt dem Sohn wohl nie verziehen, ihn seiner Frau »beraubt« zu haben ...

Der Schicksalsschlag lähmte den Schriftsteller ebenso, wie er sich privat zurückzog, eine Zeit lang sogar zum Okkultismus Zuflucht nahm. Erst Mitte der 30er-Jahre heiratete der vor seiner Ehe recht umtriebige womanizer Perutz ein zweites Mal, die deutlich jüngere Grete Humburger, Tochter eines Wiener Geschäftsmannes. Die Ehe war nach den Erzählungen der Kinder zu schließen nicht besonders glücklich: mangelnde Akzeptanz durch die Kinder, denen gegenüber die altersmäßig eher diesen als dem Gatten nahestehende Stiefmutter keine echte Mutterrolle entwickeln konnte, auch war Perutz' Verhältnis zu den Angehörigen seiner Frau von Anfang an mehr als spannungsgeladen.

Inzwischen war auch der Autorenruhm durch die Machtergreifung Hitlers, durch die für Perutz der wichtige deutsche Buchmarkt faktisch wegfiel (obwohl er offiziell nicht auf der Liste der verbotenen Autoren stand), weitgehend verblichen. Und nach der Besetzung Österreichs durch Hitler-Deutschland im Frühjahr 1938 mußte Perutz mit seiner Familie fliehen, wobei er durch seinen geschäftstüchtigen Bruder Fritz, einen begeisterten Zionisten, überredet wurde, Palästina als Exilaufenthalt zu wählen, da dieser dort eine Niederlassung seines Unternehmens gegründet hatte.

Die Zeit des Exils führte zum Verstummen des Schriftstellers: weder suchte noch fand er Anschluß an die wenigen deutschen Exilliteraten (wie Arnold Zweig oder Max Brod), ebenso interessierte ihn nicht die allmählich sich entwickelnde neuhebräische Literatur (z.B. Samuel Agnon). Die Begeisterung Jorge Luis Borges' für ein Frühwerk des Dichters (»Der Meister des Jüngsten Tages«), das dieser selbst keineswegs für bedeutend hielt, das aber durch Borges' Initiative in Südamerika übersetzt und mehrfach aufgelegt wurde, sorgte neben der wieder aufgenommenen Tätigkeit als Mathematiker in einer Versicherungsgesellschaft und den Unterstützungen durch seinen Bruder für den im Vergleich zu früher eher bescheidenen Unterhalt der Familie.

Nach der Gründung des Staates Israel entfremdete sich Leo Perutz zunehmend seiner Exilheimat, obwohl er die Staatsbürgerschaft Palästinas bereits 1940 angenommen hatte, und nun israelischer Staatsbürger geworden war, weil ihm der israelische Nationalismus innerlich zuwider war, und sich für ihn durch die weitgehende Vertreibung der Araber aus den israelischen Gebieten das einzige, was ihn mit seinem Aufenthalt versöhnte, das »orientalische Flair« des Landes, zunehmend verflüchtigte. Daher dachte er bald nach Kriegsende über eine Rückkehr nach Österreich nach (was durch die Briefzensur und Ausreiseverbote Israels allerdings anfangs schwer möglich war), nahm 1952 wieder die österreichische Staatsbürgerschaft an, hielt sich aber aus Gesundheits- und Altersgründen für nicht mehr in der Lage, einen neuerlichen Wohnsitzwechsel nach Österreich zu bewerkstelligen. Seit 1950 verbrachte er jedoch die in Israel für ihn besonders belastenden Sommermonate in Wien und im Salzkammergut. Beim Sommerurlaub des Jahres 1957 ist er dann in Bad Ischl, der Sommerresidenz von Kaiser Franz Joseph, seinem Herzleiden erlegen.

Seine Grabstätte fand er auf dem evangelischen Teil des Friedhofs von Bad Ischl — nicht, wie der passionierte Kaffeehausgeher scherzhaft in jüngeren Jahren wünschte: in einem Kaffeehaus, umwölkt vom Rauch der Zigaretten und im Duft des schwarzen Kaffees. Neben den Angehörigen nahmen einige alte Freunde aus Österreich am Begräbnis teil: so vielfältig, wie sein Leben durch die Wirren der Zeit druchbrochen war, so vielfältig auch nimmt sich diese Liste der Teilnehmer aus — Bruno Brehm (Achtung, pfui! Ein pöhser »Nazi-Dichter«), Peter de Mendelssohn, die spätere »Grande Dame« der österreichischen Literatur Hilde Spiel und natürlich Alexander Lernet-Holenia, in dessen Ischler Haus Perutz am Tag vor seinem Tod zusammengebrochen war, und ins Spital eingeliefert wurde, der die Grabrede hielt. Bruno Brehm schrieb in seinem Nachruf über das Begräbnis:
Es war ein regnerischer Tag. Vom Ischler Friedhof sah man die waldigen Berge, aus denen der Nebel aufstieg und auf die sich die Wolken herabsenkten. »Regen«, hatte Perutz gesagt, »macht mir nichts. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr man sich in Palästina nach Regen sehnt.«
(Bruno Brehm, Zwischen Omarmoschee und Kahlenberg, S. 368)

Die wohl beste Selbstcharakteristik hat der Autor wohl in seinem letzten Werk, »Der Judas des Leonardo«, gegeben, wo er einen Bänkelsänger eine Ballade vortragen läßt — Frucht einer Jahrzehnte zurückliegenden Übersetzungstätigkeit von Perutz, der mit Alexander Lernet-Holenia (der dann diesen Roman auch herausgeben sollte) und Anna Lifczis Ende der 20er-Jahre Dichtungen von François Villon möglichst getreu ins Deutsche übertrug; in gewissem Sinne ist es also auch ein Selbstzitat:
Ihr guten Leut, ich kenn der Dinge Lauf.
Ich kenn den Tod, den wilden Wüterich.
Ich kenn des ganzen Lebens Ab und Auf.
Ich kenne alles. Alles, nur nicht mich.


(Siebauer, a.a.O, S. 170f)
Den Schlußvers verwendete Ulrike Siebauer als Untertitel ihrer verdienstvollen Perutz-Biographie — und mit vollem Recht! Leo Perutz, der mathematisch kühl konstruierende Psychologe, der hinter- und abgründige Phantast, der in seinen vielen Werken im Stande war, unzählige, bunteste Fäden von Einzelschicksalen zu verknüpfen und zu einem Teppich des Lebens in all seiner Fülle zu weben, kannte in der Tat alles.

Doch wie sein zerrissenes Leben beweist: alles, nur nicht sich …

5 Kommentare:

  1. "Nach der Besetzung Österreichs durch Hitler-Deutschland..." So, so. Besetzung.

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  2. Cher »Anonym«,

    wie sonst gedenken Sie die Tatsache zu bezeichnen, daß die Truppen eines 10-mal größeren Nachbarstaates die Grenzen eines kleinen Landes überschreiten, nachdem besagter Nachbarstaat durch erpresserische Drohung mit einem Militärschlag den Rücktritt der Regierung und die Absage einer bereits angesetzten Volksabstimmung über die Beibehaltung der Eigenstaatlichkeit erzwang, und der Noch-Regierungschef im Rundfunk verkündet »der Gewalt zu weichen«, und sich mit dem Wunsch verabschiedete »Gott schütze Österreich!« — wenn nicht als Besetzung?

    So, wie ich bspw. das Würgen und Wehrlosmachen einer Frau und einen daran anschließenden Geschlechtsverkehr als Vergewaltigung bezeichne, so bezeichne ich das Vorgehen Hitlers als Besetzung.

    Wenn Sie derlei Vorgänge anders sehen und beziechnen sollten, kann ich Ihnen auch nicht helfen.

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  3. P.S.:

    Das Tondokument der letzten Anspache Schuschniggs im Rundfunk kann von Ihnen hier:

    https://www.mediathek.at/atom/015C6FC2-2C9-0036F-00000D00-015B7F64

    angehört werden. Wenn Sie dann immer noch die Unfreiwilligkeit des »Anschlusses« bezweifeln, kann ich Ihnen, nochmals gesagt, auch nicht helfen. Dann sind Sie vermutlich auch der Überzeugung, daß die CSSR 1968 die UdSSR um brüderliche Hilfe ersucht hat, oder daß die Nordvietnamesen im sogen. »Tonkin-Zwischenfall« die USA angegriffen hätten, oder daß Saddam Hussein »Massenvernichtungswaffen« auf Europa gerichtet hatte ...

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  4. Danke für dieses schön Stück über Perutz. - Ich habe vor Jahren "Meister des jüngsten Tages" gelesen, auch zu Ende gelesen :-) Wurde jedoch nicht recht warm mit dem dünnen Roman (seitenzahlbezogen). Dennoch werde ich mir Perutz nun noch mal genauer anschauen. Neugierig geworden. - Eine Bitte/Anregung: Bruno Brehm wurde erwähnt. Ich las einige Bücher von ihm. Auch heute noch, mehr als ein halbes Jahrhundert später, gut und mit Gewinn lesbar. Ein Auseinandersetzung mit diesem Autor ist auf jeden Fall ein Gewinn und das Totschlagargument "oh, ein 3.Reich Autor" verführt zur eigenen Gedankenfaulheit. Kurz: Ich wünsche mir einen Artikel über Brehm.

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  5. Cher "Anonym",

    versuchen Sie es am besten mit dem Marques von Bolibar, Steinernen Brücke und dem Schwedischen Reiter — nur so ein subjektiver Rat ...

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