Als ich einem literarisch sehr belesenen Freund ein Altersgedicht — im wörtlichsten Sinne, denn sein Titel ist: »Alter« — von
Agnes Miegel zu lesen gab, machte der große Augen und gestand, daß er von Miegel bisher nur … na, sagen wir: mittelprächtig interessante Balladen gekannt habe. Aber dieses Gedicht hier sei wirklich eine Überraschung für ihn.
Die Dichterin selbst gesteht in einem Brief nach ihrem fünfzigsten Geburtstag, den sie ihrer Dichter-Freundin
Ina Seidel schrieb, und darin die herablassend abwertende Kritik beklagte, die ihre Lyrik — als bestenfalls »anmutig-kleidsam«, meist jedoch schlichtweg »leblos« — durch den damaligen Literaturkritik-Papst
Wilhelm von Scholz gefunden hatte:
Ich kenne so genau die Grenzen meiner Begabung — wie sehr, das fühle ich bei jedem Vers von Dir, der die Götter doch Tore öffneten, die mir immer verschlossen blieben. — Ich weiß auch ebenso genau, daß viele meiner ersten Gedichte richtig »anempfunden« sind, wie man damals sagte. Aber ich habe immer mehr und mehr mich doch bemüht, das abzutun, und in den letzten 30 Jahren nur geschrieben, was ich vor mir verantworten kann. Ich habe meine Seele, mein tiefstes Sein, das Beste in mir, im letzten und höchsten Sinn des Opfers in meine Verse nicht nur, eigentlich in alles getan, was ich schrieb — es ist doch sehr schwer, wenn das von jemand von unserer Art so verkannt (und so erbarmungslos gesagt) wird.
Jahre davor, 1902, hatte sie in einem Brief einer anderen lebenslangen Hezensfreundin, der Dichterin
Lulu von Strauß und Torney, die zwar humorvoll klingenden, doch merklich bitter selbstkritischen Worte geschrieben:
Ich bin sicher keine Künstlernatur. Das wird mir jetzt so klar, wie ich Dich in und nach dem Rausch sehe. […] Früher war mir das selbst nicht klar. Nun ich Deine Verse lese, weiß ich es. Oder um es plastischer auszudrücken, Deine Liebe geht in goldenen Sandalen, und meine geht immer in wollenen Socken.
Hatte Agnes Miegel wirklich Anlaß, derart gering von ihren Fähigkeiten zu denken? War sie wirklich bloß eine durch ihre Vereinnahmung durch die Nazi-Propaganda als »ostpreußische Heimatdichterin« hinaufgeschwemmte Dilettantin, die ihre heutige Vergessenheit, ja Verfemung redlich verdient?
Sicherlich ist vieles aus ihrer Lyrik, dem sie ihre seinerzeitige Berühmtheit verdankte, zeitgebunden und heute nur aus literarhistorischem Interesse lesbar. Manches (vielleicht zu vieles) wurde vor und in tausendjährigen Zeiten auch politisch instrumentalisiert, und Agnes Miegel mußte sich nach 1945 schon zu Lebzeiten den Vorwurf gefallen lassen, sie hätte sich zu leichtfertig vor den Karren der Nazis spannen lassen. Daß sie selbst, eine alleinstehende Frau in vorgerücktem, ja hohem Alter, weder persönliche Schuld in jener Zeit auf sich geladen, noch an einer Schuld anderer irgendwie erwähnenswert Anteil hatte, räumen auch ihre mißgünstigsten Kritiker ein, die auch zugeben müssen, daß Agnes Miegel bereits deutlich vor der Nazi-Zeit ihre anerkannte Position im literarischen Leben Deutschlands (und speziell natürlich: Ostpreußens) errungen hatte. 1924 erhielt sie bei einer Feier aus Anlaß eines 200-Jahres-Gedächtnisses für Immanuel Kant das Ehrendoktorat der Königsberger Universität — nur ein Beispiel unter vielen Ehrungen, die die Zeit der Weimarer Republik ihr brachten. Sie war also keineswegs ein opportunistischer Günstling des Dritten Reichs wie manch andere, deren schlechte, aber »deutsche« Verse ihnen ein leicht- aber unverdientes Auskommen sicherten!
Auf allen überlieferten Bildern zeigt Miegel ihren ebenso trotzig-eigenwilligen wie »schweren«, will heißen: zur Schwermut neigenden Charakter. In der Jugend mehr Trotzkopf, dominieren im Alter (was Wunder bei ihrem von persönlichen Rückschlägen und familiärer Tragik, von Kriegsnot und Vertreibung aus der Heimat überschatteten Lebenslauf!) bei aller sichtbaren Güte herb und verschlossen wirkende Züge.
Aus Anlaß ihres 75. Geburtstages erhielt Miegel 1954 die Ehrenbürgerschaft ihrer neuen Heimat, Bad Nenndorf, wo sie sich nach ihrer Flucht aus der Heimat und Aufenthalt in einem Flüchtlingslager in Dänemark etc. im Jahr 1948 endlich niederlassen konnte — es wäre interessant herauszufinden, ob ein flachgeistiger Gemeinderat diese Ehrenbürgerschaft einer »Nazidichterin« bereits posthum widerrufen hat. Daß mittlerweile mehrfach Umbenennungen von Straßen und Schulen stattgefunden haben, wird niemanden verwundern, der die Intoleranz der selbsternannt »Toleranten« unserer Tage kennt, und wird von Wikipedia genüßlich als eigener Abschnitt ihres
Lexikonartikels aufgezählt — mit dem bedauernden Schlußsatz:
Knapp hundert weitere Straßen und Wege sind noch immer nach ihr benannt, vor allem in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen.
Doch nicht um die Biographie der Dichterin soll es in diesem Artikel vorzugsweise gehen, sondern um ihr Werk, insbesondere ihre Lyrik. Und hier bin ich geneigt, ein deutlich positiveres Urteil als seinerzeitige Literaturpäpste oder sogar die Dichterin selbst zu fällen: nach meinem Dafürhalten hat sie in ihrem umfangreichen Lebenswerk durchaus einige Gedichte hohen Ranges verfaßt, die den, wenn man so sagen will, »reich gestirnten Kosmos« der deuschen Lyrik würdig schmücken und bereichern.
Und — gegen die Meinung der Dichterin, die sich entsagend in »Wollsocken« kleiden möchte — auch wenigstens ein »Liebesgedicht« ist darunter, das trotz — oder wegen — all seiner Herbheit der Entsagung und Enttäuschung von einer Tiefe der Liebe spricht wie wenige:
Der es gegeben
Daß ich so jung dich fand,
Gott hielt dein und mein Leben
Wie Blumen in seiner Hand.
Daß er die eine
Verwarf und zertrat,
Er weiß alleine
Warum er es tat.
Der nimmt und der gibt
Weiß, warum er uns schied —
Herz, das mich immer geliebt,
Herz, das mich immer verriet.
So kurz nur gegeben
Die Frist die uns band —
Gott hielt dein und mein Leben
Wie Blumen in seiner Hand!
Das Gedicht »Alter« (1953) wurde bereits erwähnt, »Das Lied der Toten« (1920) wirkt wie eine expressionistisch angehauchte Vorahnung davon. Aus dem Alterswerk stammt auch das gleichfalls 1953 enstandene Gedicht »Es war ein Land«, in welches die Dichterin all ihre Liebe, Sehnsucht, Wehmut und, ja: auch Hoffnung für ihre alte Heimat Ostpreußen legt. Und es ist dieses Gedicht, welches von ihr selbst gelesen als Tondokument dieser Stimme Ostpreußens überlebt hat, und mit dem dieser Gedenkartikel beschlossen sei — und das wohl einen würdigen Platz in der Reihe der »Hundert notwendigen Gedichte« einzunehmen im Stande ist:
Agnes Miegel verstarb heute vor fünfzig Jahren, am 26. Oktober 1964, im Krankenhaus Bad Salzuflen.
Wunderbar. Danke für das Gedicht, Einordnung und Anmerkungen.
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