Sie sind Sozialisten entweder, weil sie von der sozialistischen Gesellschaftsordnung eine höhere Ergiebigkeit der gesellschaftlichen Arbeit erwarten, oder weil sie die sozialistische Gesellschaftsordnung für gerechter halten. Während es aber für den reinen Marxismus keine Versöhnung mit dem ethischen Sozialismus geben kann, ist sein Verhältnis zum ökonomisch-rationalistischen Sozialismus ein anderes; man könnte die materialistische Geschichtsauffassung in dem Sinne verstehen, daß die Selbstbewegung des Wirtschaftlichen zur höchsten Wirtschaftlichkeit hinführt, die im Sozialismus gegeben erscheint. Der Mehrzahl der Marxisten liegt diese Auffassung freilich fern. Sie sind für den Sozialismus einmal, weil er ohnehin kommen muß, dann, weil er sittlich höher steht, und schließlich, weil er rationellere Wirtschaft bringt.
Die beiden Motive des nichtmarxistischen Sozialismus schließen einander aus. Wer für den Sozialismus eintritt, weil er von der sozialistischen Gesellschaftsordnung eine höhere Ergiebigkeit der gesellschaftlichen Arbeit erwartet, braucht seine Forderung nicht erst besonders auf eine höhere sittliche Wertung der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu stützen. Tut er das doch, dann bleibt die .Frage offen, ob er für den Sozialismus auch dann einzutreten bereit wäre, wenn der Sozialismus in seinen Augen nicht die sittlich vollkommenere Gesellschaftsordnung wäre. Umgekehrt ist es klar, daß derjenige, der für sozialistische Gesellschaftsordnung aus ethischen Rücksichten eintreten will, dies auch dann tun müßte, wenn er der Überzeugung wäre, daß die auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln beruhende Gesellschaftsordnung größere Ergiebigkeit der Arbeit gewährleistet.
Für die eudämonistisch-rationalistische Betrachtungsweise der gesellschaftlichen Erscheinungen ist schon die Problemstellung des ethischen Sozialismus unbefriedigend. Wenn man sich Ethik und „Wirtschaft“ nicht als zwei Objektivationssysteme denkt, die miteinander nichts zu tun haben, dann können ethische und wirtschaftliche Wertung und Beurteilung nicht als voneinander unabhängige Faktoren erscheinen. Alle ethische Zielsetzung ist nur ein Teil der menschlichen Zielsetzung überhaupt. Das soll sagen, daß sie auf der einen Seite dem allgemeinen menschlichen Streben nach Glückseligkeit gegenüber als Mittel erscheint, auf der anderen Seite aber von demselben Wertungsprozeß erfaßt wird, der alle Zwischenziele in einer einheitlichen Wertskala vereinigt und der Wichtigkeit nach abstuft. Die Vorstellung von ethischen absoluten Werten, die den wirtschaftlichen Werten entgegengestellt werden können, ist danach nicht aufrecht zu halten.
Mit dem ethischen Apriorismus und Intuitionismus gibt es freilich über diesen Punkt keine Auseinandersetzung. Wer das Sittliche als letzte Tatsache hinstellt und die wissenschaftliche Prüfung seiner Elemente durch den Hinweis auf einen transzendenten Ursprung abschneidet, mit dem kann man nie ins Reine kommen, wenn man auch das Gerechte in den Staub der wissenschaftlichen Analyse herabzieht. Gegenüber dem Befehle der Ethik des Pflichtgedankens und des Gewissens gibt es nur blinde Unterwerfung. Die aprioristische Ethik tritt mit ihren unbedingte Geltung beanspruchenden Normen von außen her an alle irdischen Verhältnisse heran, um sie unbekümmert um alle Folgen, in ihrem Sinne umzugestalten. „Fiat iustitia, pereat mundus“ ist ihre Devise, und es ist ehrliche Entrüstung, wenn sie sich über den ewig mißverstandenen Satz: „Der Zweck heiligt das Mittel“, empört.
Der isoliert gedachte Mensch setzt alle seine Ziele nach seinem eigenen Gesetz. Er sieht und kennt nichts anderes als sich und richtet sein Handeln danach ein. Der in Gesellschaft lebende Mensch muß in seinem Handeln aber stets zugleich darauf Bedacht nehmen, daß er in Gesellschaft lebt, und daß er in seinem Handeln notwendigerweise auch den Bestand und die Fortentwicklung der Gesellschaft bejahen muß. Aus dem Grundgesetz des gesellschaftlichen Zusammenlebens folgt, daß er dies nicht etwa tat, um Ziele, die außerhalb des Zwecksystems seiner eigenen Person liegen, zu erreichen. Indem er die gesellschaftlichen Zwecke zu seinen eigenen macht, ordnet er nicht seine Persönlichkeit und seine Wünsche einer anderen, über ihm stehenden höheren Persönlichkeit unter, verzichtet er nicht auf Erfüllung irgendwelcher eigener Wünsche zugunsten der Wünsche einer mystischen Allgemeinheit. Denn die gesellschaftlichen Ziele sind, vom Standpunkte seiner eigenen Wertung aus gesehen, nicht Endziele, sondern Zwischenziele in seiner eigenen Rangordnung der Ziele. Er muß die Gesellschaft bejahen, weil das gesellschaftliche Zusammenleben ihm selbst eine bessere Erfüllung seiner eigenen Wünsche gewährleistet. Würde er sie verneinen, so würde er sich nur vorübergehende Vorteile schaffen können, in letzter Linie würde er durch die Zerstörung des gesellschaftlichen Körpers auch sich selbst treffen.
Der Dualismus der Motivation, den die Mehrzahl der ethischen Theorien annimmt, wenn sie zwischen egoistischen und altruistischen Beweggründen des Handelnden unterscheidet, ist nicht aufrecht zu halten. Die Gegenüberstellung von egoistischem und altruistischem Handeln entspringt einer Auffassung, die das Wesen der gesellschaftlichen Verknüpfung zwischen den Individuen verkennt. Es ist - wenn man will, mag man sagen: glücklicherweise - nicht so, daß ich die Wahl habe, durch mein Tun und Lassen entweder mir oder meinen Mitmenschen zu dienen. Wäre dem so, dann wäre menschliche Gesellschaft nicht möglich. Die Grundtatsache des Gesellschaftslebens, die auf der Wirkung der Arbeitsteilung beruhende Interessenharmonie der Menschen macht, daß zwischen Handeln zu meinen Gunsten und Handeln zugunsten der anderen in letzter Linie kein Gegensatz besteht, so daß die Interessen der Einzelnen endlich zusammenfließen. Daher denn auch jener berühmte wissenschaftliche Streit über die Möglichkeit, die altruistischen Motive des Handelns aus den egoistischen abzuleiten, als abgetan gelten kann.
Zwischen Pflicht und Interesse gibt es keinen Gegensatz. Was der Einzelne der Gesellschaft gibt, um sie als Gesellschaft zu erhalten, gibt er nicht um fremder Ziele willen, sondern um der eigenen. Der Einzelne, der nicht nur als denkendes, wollendes und fühlendes Wesen, also als Mensch, sondern auch als Lebewesen überhaupt Produkt der Gesellschaft ist, kann die Gesellschaft nicht verneinen, ohne auch sein eigenes Selbst zu verneinen.
(aus: Ludwig von Mises, Gemeinwirtschaft , Jena 1922, 384 ff.)
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