Dienstag, 7. August 2018

Impressionen aus der Blogpause II

von Fragolin

Um unsere Kleinen gleich auf den zarten Unterschied zwischen schnödem Faulenzen am Strand und der erbauenden Beschäftigung mit Historie und Kultur aufmerksam zu machen, unterbrachen wir ihre täglichen Bestrebungen, eine Art Klein-Venedig zwischen den Liegen und Sonnenschirmen zu fluten, um ihnen das großartige echte Venedig zu zeigen. Sie sollten den Glanz und die Glorie des Alten Kontinentes, das Herz der Entdeckung der Welt, die Heimat großer Weltbezwinger wie Marco Polo, kennenlernen.
Und sie lernten es kennen.

Schwitzende Menschenmassen multikultureller Prägung schoben sich durch eine glutheiße Stadt, die man wohlmeinend als Müllhalde mit offenem Abwassersystem einstufen könnte. Schon während meines ersten Besuches dort vor immerhin mehr als einem Vierteljahrhundert, war Venedig ein verfallendes, faulig müffelndes Drecksloch mit ein paar ausgespachtelten und frisch geschminkten Fassaden und wurde von mir schon damals als Markenzeichen des niedergehenden Europa bezeichnet: tolles Marketing, eine aufgebügelte Fassade aus vergangener Größe, ein Überrest einstiger Leistungen, der heute nur noch einen faulenden Sumpf versteckt.

Am Markusplatz, der sich irgendwo unter tausenden Füßen versteckte, dann noch ein Lehrbeispiel für unsere Kleinen, was einerseits den Unterschied der Kulturen ausmacht und wie man andererseits schaffen kann, sich durchzusetzen:
Ein Gutmeinender einer örtlichen Organisation, irgendwas mit „Respect Venice“ oder so, die wohl dafür sorgen wollen, dass die letzten paar für Touristen überhaupt sehenswerten Sehenswertigkeiten in einem irgendwie, nun ja, sehenswerten Zustand bleiben, versuchte einige Touristen davon zu überzeugen, sich nicht vor den Gebäuden auf den Treppenstufen hinzusetzen und den anderen damit den Zugang zu verbauen oder das Fotomotiv zu verhageln. Und die Kleinen konnten gleich etwas über unterschiedliche Kulturen lernen: Während die Weißen und Ostasiaten nach der Ansprache sofort und ohne Widerworte lächelnd aufstanden und die Stufen räumten, versuchten es einige Dunkelhäutige in quietschbunten Fetzen, mit viel Geschrei und Diskussion, ihr Recht auf Sitzenbleiben durchzusetzen, was ihnen aber anscheinend argumentativ nicht gelang, denn nach einer Minute erhoben sie sich keifend und gestikulierend und zogen von dannen. Derweil blieb eine komplette indische Großfamilie einfach stoisch sitzen, ignorierte den redenden und fuchtelnden „Respect“-Harlekin komplett und schaute nicht einmal in seine Richtung. Der konnte machen was er wollte, der Mahatma-Gandhi-Verschnitt mit dem dicken Turban und sein Gefolge saßen seelenruhig da, verteilten sich sogar auf einige der gerade von den Afrikanern geräumten Stufen, und kauten seelenruhig irgendeine Stärkung. Nach einigen Versuchen, sich Seiner Ignoranz bemerkbar zu machen, zog der venezianische Ordnungshüter resigniert ab. Die Inder aber saßen kauend und grinsend da und scherten sich einen Dreck um den Rest der Welt.
Ich muss mal Ahnenforschung betreiben, ob es bei meinen Kindern indische Vorfahren gibt. Das mit dem Ignorieren beherrschen sie nämlich perfekt.

Ach ja, was mir auch noch aufgefallen ist: Vor einem Vierteljahrhundert waren die großen Renner auf den Touristenstrecken und in den Seitengassen Schachspiele. Handgeschnitzt aus edlen Hölzern oder mit kunstvollen Glasfiguren. Heute: keines. Nicht eines. Ich weiß es, weil mein Großer gerade Schach lernt (und das freiwillig und aus Freude an dem Spiel) und ich ein für einen Achtjährigen adäquates und doch edles Spiel aus verschiedenfarbenen Hölzern gesucht habe. Dafür haufenweise pigmentverstärkte Straßenverkäufer, die alle den gleichen Mist verkaufen: irgendwelche glibberigen Matschfiguren, die man mit lautem Platschen auf den Asphalt schmeißen kann, wo sie als zermatschter Fleck landen und sich dann innerhalb weniger Sekunden wieder zur ursprünglichen Glibbergestalt aufrichten. Die Menschen vor fünfundzwanzig Jahren spielten Schach. Die Menschen heute freuen sich, wenn glibberige Kunststoffe ein Formgedächtnis besitzen. Ich habe den Verdacht, mein schachspielender Sohn wird in einem Jahrzehnt auswandern müssen, um hier nicht in einem Kuriositätenkabinett ausgestellt zu werden.

Der Modder und die Fäulnis in den Kanälen Venedigs ist nur ein Gleichnis für das, was sich heute in den Gehirnen der meisten Menschen dieses langsam im eigenen Müll versinkenden Kontinentes abspielt.

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