von Fragolin
Als ich mir gestern den Luxus leistete, auf meiner Natursteinterasse
ein bis drei Gläschen Abgelagerten zu genießen und dabei dem frisch
angeschafften Rasenroboter meines Nachbarn beim Roboten auf dem
Rasen zuschaute, kam ich so ins Sinnieren.
Mein Vater hatte noch eine richtige große Wiese jenseits des Hauses,
auf der alles nur erdenklich Blühende wucherte und man sich als Kind
allsommerlich seine Sammlung an Insektenstichen vervollständigte.
Das Gras und Gekräute wucherte in dermaßene Höhen, dass wir Kinder
darin Verstecken spielten.
Sommerlichs zog Papa dann mit einem Gerät namens Sense, die meisten
müssen jetzt wahrscheinlich googeln, auf diese Wiese um sie zu
Winternahrung für seine Hasen – damals hat man sowas noch gegessen
und nicht als Zierde im Wohnzimmer gehalten – zu verarbeiten. Das
Mähen war Handarbeit. Stundenlange, gleichmäßige Handarbeit, nur
unterbrochen durch eine gelegentliche „Fuffzehn“, ein
Viertelstündchen Pause, das ausgiebig zum Dengeln genutzt wurde. Wir
Kinder rechten die Mahd zusammen zu Streifen, in denen daraus durch
tagelange Sonneneinstrahlung Heu für die Mümmler wurde.
Was ich nicht beschreiben kann, auch wenn meine olfaktorische
Erinnerung das auf ewig in meine mentalen Naseninnenwände tapeziert
hat, ist der Duft. Es roch nach Gras, nach Kräutern, nach Blumen,
nach Sommer. Der Sommer hatte einen Geruch. Und ein Geräusch.
Wusch – wusch – wusch ging die Sense und setzte permanent neue
Düfte frei.
Später hatten wir beim Elternhaus, nicht so sehr mit Wiese, dafür
mehr mit Rasen gesegnet, einen Rasenmäher. Elektrisch. Das war für
damalige Zeiten außergwöhnlich modern, aber mein ältester Bruder
ist Elektriker, und der baute den selbst. Mit einem
Waschmaschinenmotor als Antriebseinheit und Metallsägeblättern für
den Schnitt. Der auch Metall mühelos durchtrennte, ganz besonders
Kupfer, wie das gefühlte Kilometer lange Mitführkabel mehrmals im
Laufe seines geschundenen Lebens erfahren musste. Er tat lange Zeit
gute Dienste, war nur halb so laut wie ein damals üblicher
Zweitakter und roch auch immer noch ein bisschen nach Wiese. Nach
Gras, Moos, Schafgarbe und Dost, Wegerich und Gundelrebe, Löwenzahn
und Gänseblümchen. Was sich so alles in den wenigen Wochen Mähpause
über die Grundschnittgrenze zu erheben wagte.
Heute mähen wir im Viertakt, es hämmert der Motor mit der ganzen
Wut seiner Ventile – ich habe ja den Verdacht, der wollte mal ganz
groß raus, fühlte sich bereit für ein Motorrad oder gar einen
Formel-Eins-Boliden, und ist in seinem Selbstwert daran zerbrochen,
plötzlich auf der Produktionsstraße für Rasenmäher aufzuwachen
und für den Rest seines Lebens ein Schnittwerk angeschnallt zu
bekommen, deshalb klopft der so wütend über unseren Rasen wie ein
einstiger roter Politologiestudent, der sich Hoffnungen auf das
Kanzleramt machte und nun feststellen muss, nie mehr zu werden als
der Leiter des örtlichen BFI. Der Sommer riecht inzwischen nach
Abgasen und die Nachbarn sind auch nicht zufrieden, da ich die
Höhenverstellung eher dazu nutze, das Maximum einzustellen und so zu
mähen, dass kleine Blumen und Kriechkräuter weiterleben können.
Der Rest der Siedlung schneidet lieber auf einer Höhe, dass am Ende
des Tages Myriaden geköpfter Ameisen neben mikroskopischen grünen
Enden erdiger Wurzelballen liegen. Die mähen, wenn ihr Gras bis auf
die Höhe gekommen ist, das meines hat, wenn ich fertig bin. Und das
jede Woche und nicht jeden Monat, wie ich.
Und nun hat mein Nachbar seine winzige Rasenparzelle mit einem
Sensorkabel eingeschnürt und einen kleinen elektrischen Fiffi auf
alles angesetzt, was es wagt, sein Hälmchen auch nur einen
Millimeter über die Schnittgrenze zu schieben. Die Sommertage dieses
kleinen Bonsai-Elektroschafes beginnen mit dem morgendlichen
Abstöpseln von der Ladestation und enden mit dem abendlichen
Wiederanstöpseln. Wie eine Borg-Drohne wuselt er in spiraligen
Bahnen wieder und wieder über den grüngelben Teppich und häckselt
alles nieder, was nicht dem EU-Normhalm entspricht. Nichts hat mehr
eine Chance zu wachsen oder gar zu blühen, manchmal glaube ich, das
Gras selbst traut sich schon gar nicht mehr nachzuwachsen, denn
eigentlich müssten ja Unmengen an abgeschnipselten Grashalmspänen
den Rasen bedecken, aber da ist nichts. Der säbelt anscheinend nur
einzelne Atome ab, die allzu keck den Hals in die vermeintliche
Freiheit der dritten Dimension recken.
Und wie das mit dem Rotwein so ist, wird auch daraus wieder eine
Allegorie. Nein, nicht so ein Krokodil-Dingens, eh schon wissen.
Als wir Kinder waren, da war unser Denken frei, es wuchs wie eine
Sommerwiese, blühte, wucherte, streckte sich in lichte Höhen.
Selbst wenn es mal gestutzt wurde, verfolgte das einen Nutzen. Doch
nach und nach wurden es weniger Blumen und Kräuter und mehr
Einheitsgras und es wurde auch häufiger gestutzt, eine
Denkobergrenze festgelegt. Es ging schleichend, über Jahre, und es
wurde immer schlimmer. Heute werden wir von kahaneprogrammierten
mentalen Rasenrobotern beschnitten, jeder noch so winzige Halm
eigenständigen Denkens muss radikal abgehackt werden und das
Einheitsdenken muss die Einheitshöhe einhalten. Man muss beim Denken
nicht mehr beachten, wann Mähtage sind, sondern permanent und
vollkommen überraschend jederzeit damit rechnen, dass plötzlich das
Mähwerk über den Scheitel fährt und alles Denken abschneidet.
Das eigentlich Komische dabei ist, dass uns dieses robotische
Absäbeln jeden eigenen Gedankens heute als progressive Freiheit
verkauft wird und das freie Wuchern eigener Gedanken als
Engstirnigkeit...
Der Geruch des Sommers gehört zu den Erinnerungen die bleiben –, auch in der heutigen Tristesse.
AntwortenLöschenEine unvergeßliche Erinnerung ist für mich aber auch die erste Lektüre von "Flachskopf" von Ernest Claes, der Erzählung über einen Jungen im flämischen Sommer, die in der Mittagssonne kochenden Wiesen und dieser intensive Duft.