Mittwoch, 13. September 2017

»Que sais-je?«

»Die Menschen (sagt eine alte griechische Sentenz) werden von den Meinungen gequält, die sie von den Dingen hegen, und nicht von den Dingen selbst. Man hätte schon einen großen Schritt zur Erleichterung des menschlichen Elendes gewonnen, wenn man diesem wahren Gedanken durchgängig und allenthalben Eingang verschaffen könnte. Denn wenn das Übel keinen andern Eingang bei uns findet als durch unser Urteil, so scheint es in unsrer Macht zu stehen, es zu verachten oder zum besten zu kehren. Wenn die Sachen sich nach unserm Gutachten fügen, warum lenken und beherrschen wir sie nicht zu unserm Vorteile? Wenn das, was wir Übel und Pein nennen, an sich selbst weder Pein noch Übel ist, sondern nur insofern ihm unsre Phantasie diese Eigenschaft gibt, so steht es bei uns, es zu verwandeln? Und da wir die Wahl haben und da nichts uns zwingt, so sind wir ganz sonderbare Toren, uns steif und fest auf der Seite zu halten, die uns den meisten Verdruß macht, und den Krankheiten, der Armut und der Verachtung einen so bittern, widrigen Geschmack zu geben, wenn wir solchen einen guten geben können? Und wenn das Glück nichts weiter hergibt als die Materie, so ist es unsre Sache, ihr die Form zu geben.

Aber, laß sehen, ob der Satz Stich hält, daß das, was wir Übel nennen, an sich kein Übel ist, oder (welches auf eins hinausläuft) ob wenigstens so wie es ist, bei uns selbst es stehe, ihm einen andern Geschmack, eine andre Gestalt zu geben? Wenn das ursprüngliche Wesen der Dinge, die wir scheuen, die eigentümliche Macht hätte, sich uns nach eigner Willkür zu unterwerfen, so würde es diese Willkür über alle Menschen auf einerlei Art behaupten. Denn alle Menschen sind von einerlei Gattung und sind, das Mehr oder Wenigere vorausgesetzt, mit einerlei Werkzeugen und Organen zum Wahrnehmen und Schließen versehen. Nun aber zeigt die Verschiedenheit der Meinungen ganz deutlich, daß sie nur auf Bedingung bei uns einziehen: Der eine nimmt sie vielleicht bei sich auf für das, was sie wirklich sind; aber tausend andre geben ihnen bei sich eine neue und ganz verkehrte Beschaffenheit.

Wir halten den Tod, die Armut und körperliche Schmerzen für unsre hauptsächlichsten Feinde. Wer weiß aber nicht, daß dieser Tod, den einige das Schrecklichste aller Schrecknisse nennen, von andern der einzige Hafen gegen die Stürme dieses Lebens, das höchste Gut der Natur, die einzige Stütze unsrer Freiheit, das allgemeine und schnelle Heilmittel gegen alle Übel genannt wird? Und daß, so wie etliche mit Zittern und Zagen an ihn denken, andre ihn leichter ertragen als das Leben? Jener beklagt sich über seine Leichtigkeit:
Mors utinam pavidos vita subducere nolles,
Sed virtus te sola daret!
Lucan IV,580: 
Ach, daß der Tod auch Feige und nicht allein den Tapfern trifft!
Doch nichts mehr von so tapfern Gemütern! Theodorus antwortete dem Lysimachus (360-281 v. u. Z., Feldherr Alexanders des Großen, nach dessen Tod zunächst König von Thrakien, später auch von Mazedonien), der ihn zu töten drohte: Du wirst eine mächtige Tat verüben, wenn du's an Gewalt einer Bremse gleichtust. Unter den Philosophen haben die meisten ihren Tod mit Fleiß beschleunigt oder sind ihm mit allem Bedacht zuvorgekommen. Wie viele gemeine Menschen sieht man zum Tode führen, und nicht etwa bloß zu einem einfachen Tode, sondern begleitet von Schimpf und Schande und zuweilen von den herbsten Qualen, die mit einer solchen Standhaftigkeit erscheinen, der eine aus Hartnäckigkeit, der andre aus natürlicher Einfalt, daß man keine Veränderung in ihrer gewöhnlichen Fassung wahrnehmen kann. Sie beschicken ihr Haus, soweit sie dürfen, empfehlen sich ihren Freunden, singen, halten Reden ans Volk und machen gar noch zuweilen Spaß und Scherz zum Lachen. Sie trinken auf das Wohl ihrer Bekannten, so gut wie Sokrates.

Einer, den man zum Galgen führte, sagte, man möchte sich ja hüten, durch eine gewisse Gasse zu gehen; er liefe sonst Gefahr, daß ihn ein Kaufmann anpackte, bei dem er noch von alters her an der Kreide stünde. Einer sagte zum Scharfrichter, er solle ihm nicht an den Hals greifen, er möchte sonst vor Lachen aufspringen, weil er sehr kitzlich sei. Jener antwortete seinem Beichtvater, der ihm die Verheißung gab, daß er heute noch mit unserm Erlöser zu Tische sitzen würde: Gehn Sie nur hin und nehmen meinen Platz; denn ich habe Fasttag. Jener andre, dem, als er zu trinken begehrt hatte, der Henker es durch Vortrinken zubrachte, wollte ihm nicht nachtrinken, denn, sagte er, der könnte mir eine böse Krankheit mitteilen. Alle Welt muß von Picard erzählen gehört haben, dem man, als er bereits auf der Leiter stand, Gnade versprach (wie unsre Justiz wohl zuweilen gestattet), wenn er ein gewisses Mensch, das man ihm zeigte, heiraten wollte. Er betrachtete solches ein Weilchen, merkte, daß das Mädchen hinkte und rief: Schnüre zu! Schnüre zu! Das Ding geht schief! So erzählt man etwas Ähnliches, das sich in Dänemark zugetragen haben soll. Einem Menschen nämlich, der verurteilt war, den Kopf zu verlieren, bot man auf dem Blutgerüst unter ebensolcher Bedingung Gnade an, die er aber ausschlug, weil das Mädchen, das man ihm geben wollte, hohle Wangen und eine Spitznase hätte. Ein Bedienter zu Toulouse, der Ketzerei wegen eingezogen wurde, wußte keinen andern Grund seines Glaubens anzugeben, als weil es der Glaube seines Herrn wäre; dies war ein junger Student, der mit ihm im Gefängnis saß, und blieb der Bediente dabei, lieber zu sterben als sich überzeugen zu lassen, daß sein Herr irren könnte. Wir lesen von den Bürgern der Stadt Arras, daß, als der König Ludwig der Elfte solche einnahm, sich eine ansehnliche Zahl von ihnen lieber hängen ließ als rufen wollte: Es lebe der König!

Und unter den kriechenden Seelen der Hofnarren haben sich einige gefunden, die ihr Possenreißen selbst im Tode nicht haben lassen wollen. Einer von ihnen schrie, als ihn der Henker von der Leiter stieß: Aufgeschaut! Ein Wort, das er bei seinen Späßchen immer brauchte. Und ein andrer, den man, in dem Augenblicke, da er den Geist aufgeben wollte, längs dem Kamine auf einen Strohsack gelegt hatte, antwortete dem Arzt, der ihn fragte, wo er denn eigentlich die Krankheit hätte: zwischen der Bank und dem Kamin. Und als der Priester, der ihm die Letzte Ölung geben wollte, seine Füße suchte, die er wegen der Schmerzen an sich gezogen hatte: Sie werden sie wohl, sagte er, am Ende meiner Beine finden. Denjenigen, der ihn ermahnte, er solle sich Gott empfehlen, fragte er: Wer reist hin? Und als ihm dieser antwortete: Das wirst du bald selbst sein, wenn's ihm gefällt, so versetzt' er: Sollt' ich morgen abend wohl angelangt sein? Empfiehl dich ihm nur, verfolgte der andre, du wirst bald dort sein. Nun, fuhr der erste fort, so ist's wohl besser, daß ich ihm meine Empfehlungsschreiben selbst überbringe!

Im Königreich Narsingen werden noch jetzt die Weiber der Priester mit den Leichen ihrer Ehemänner lebendig begraben. Alle übrigen Eheweiber werden beim Leichenbegängnis der ihrigen lebendig verbrannt und sind dabei nicht nur standhaft, sondern sogar fröhlich und munter. Beim Tode eines Königs stellen sich nicht nur seine Gemahlinnen, Kebsweiber, Günstlinge und alle Minister und Bediente aus dem Volke sehr munter beim Feuer ein, wo sein Leichnam verbrannt wird, sondern suchen auch die größte Ehre darin, wenn sie gewürdigt werden, ihrem Herrn Gesellschaft zu leisten.

Während unsers letzten Krieges im Mailändischen, worin das Volk über die abwechselnden Vorteile und Nachteile unwillig ward, faßte es eine solche Bereitwilligkeit zum Tode, daß ich meinen Vater sagen gehört habe, wie er es erlebt habe, daß sich wohl fünfundzwanzig Hausherrn in einer Woche das Leben verkürzt hätten: ein Ereignis, das demjenigen nahe kommt, was sich bei den Xanthiern zutrug, welche sich, als Brutus sie belagerte, solchergestalt, Männer, Weiber und Kinder, der Wut zu sterben überließen, daß man weniger tut, um dem Tode zu entfliehen, als diese taten, um dem Leben zu entgehen; so daß auch Brutus kaum eine kleine Anzahl von ihnen zu retten vermochte.

Jede Meinung ist stark genug, um sich der Menschen auf Kosten ihres Lebens zu bemeistern; der erste Artikel des kühnen Eides, den die Griechen im Medischen Kriege Vor der Schlacht bei Platää (Sieg der Griechen über die Perser 479 v. u. Z.). schwuren und hielten, lautete: Jedermann wolle lieber das Leben mit dem Tode als die persischen Gesetze mit den seinigen vertauschen. Wie viele Menschen sieht man nicht in den Kriegen der Türken mit den Griechen, die lieber den Tod, und zwar einen sehr bittern Tod erleiden, als ihrer Beschneidung entsagen und sich taufen lassen wollen. Beispiele, deren keine Religion unfähig befunden wird.

Als die kastilischen Könige die Juden aus ihrem Reiche und Lande verbannt hatten, verkaufte ihnen der König Johann (König von Portugal von 1481 bis 1495) kopfweise um acht Taler die Freiheit, sich in seinem Reiche für eine gewisse Zeit mit Sicherheit aufhalten zu dürfen, mit der Bedingung, daß sie nach deren Verlauf es räumen sollten; und versprach ihnen alsdann Schiffe herzugeben, die sie nach Afrika überfahren sollten. Als der Tag erschienen und es verkündigt worden war, daß diejenigen, welche der Bedingung nicht gehorchten, als Sklaven im Lande bleiben würden, gab man eine ganz unhinlängliche Anzahl Fahrzeuge, und diejenigen, die sich darauf einschifften, wurden durch die Schiffsleute so hart und bübisch behandelt und unter andern Tücken, die sie ihnen erwiesen, so lange auf dem Meere herumgeschleppt, bis sie ihren Mundvorrat völlig aufgezehrt hatten und gezwungen waren, von ihnen so teuer und so lange zu kaufen, ehe sie an Land gesetzt wurden, bis sie nichts mehr zu verkaufen hatten als ihre bloßen Hemden. Als die Zeitung von dieser Unmenschlichkeit zu denjenigen gelangte, welche im Lande geblieben waren, entschloß sich der größte Teil davon zur Sklaverei; einige taten so, als ob sie die Religion verändern wollten. Emanuel I., der Große (König von Portugal von 1495 bis 1521), Nachfolger des Königs Johann, setzte sie anfangs in Freiheit, und als er hernach seine Meinung änderte, befahl er ihnen, das Land zu verlassen, und wies ihnen drei Häfen an, wo sie sich einschiffen sollten. Er hoffte, sagt der Bischof Osorius (ein nicht unbedeutender lateinischer Geschichtsschreiber für unsre Zeiten), da das Geschenk der Freiheit nicht gewirkt hätte, sie zum Christentum zu bekehren, so würde die Schwierigkeit, sich den Diebereien der Schiffsleute auszusetzen und ein Reich zu verlassen, worin sie große Reichtümer besäßen, um nach einem fremden Lande überzusetzen, das sie nicht kannten, sie dazu vermögen. 

Da sich aber der König in seiner Hoffnung betrogen und die Juden völlig entschlossen sah, die Fahrt zu unternehmen, so sperrte er zwei von den Häfen, die er ihnen versprochen hatte, damit das Zaudern und andre Unbequemlichkeiten doch einige bewegen möchte, sich zum Ziele zu legen, oder er wenigstens Mittel hätte, sie alle an einem Orte zu häufen, um ein Vorhaben auszuführen, das er über sie beschlossen hatte. Dieses bestand darin: Er befahl, daß man alle Kinder unter vierzehn Jahren aus den Händen der Eltern und aus ihrer Aufsicht nehmen, von ihrem Umgang entfernen und an Orte bringen sollte, wo sie in unserer Religion unterrichtet würden.

Er sagt, dieser Befehl habe ein entsetzliches Schauspiel verursacht. Die natürliche Verbindung zwischen Eltern und Kindern, und noch mehr, der Eifer, womit sie ihrer alten Religion anhingen, empörte sich gegen diese gewalttätige Verordnung. Es war dabei nichts Seltenes, Väter und Mütter zu sehen, die sich selbst entleibten; und als noch traurigere Beispiele sah man, daß einige aus Liebe und Mitleiden ihre jungen Kinder in tiefe Brunnen warfen und so das Gesetz umgingen. Übrigens begaben sie sich, da der Termin abgelaufen war und sie keine Mittel zur Abfahrt hatten finden können, wieder in die Sklaverei. Einige davon wurden Christen, zu denen oder ihrer Nachkommenschaft christlichem Glauben die Portugiesen jetzt noch, hundert Jahre nachher, nur sehr wenig Vertrauen haben; obgleich Gewohnheit und Länge der Zeit weit stärker zu dergleichen Veränderungen wirken als jeder andre Zwang.

In der Stadt Castelnaudari Stadt im Departement Aude in der Nähe von Toulouse. ließen sich auf einmal fünfzig ketzerische Albigenser mit entschlossenem Mute lieber lebendig auf einem Scheiterhaufen verbrennen, als daß sie ihrer Meinung entsagen wollten. 
Quoties non modo ductores nostri, sagt Cicero, sed universi etiam exercitus, ad non dubiam mortem concurrerunt! Cicero, Tusc. disp. I,37: Wie oft sind nicht unsre Kriegsfürsten nur, sondern ganze Heere dem ungezweifelten Tode entgegengeeilt.
Ich habe einen meiner innigsten Freunde dem Tode mit Eifer nachjagen sehen, und zwar mit wahrer Vorliebe, die durch allerlei Arten von Überzeugung dergestalt in seinem Herzen eingewurzelt war, daß ich ihm solche nicht auszureden vermochte, und die erste Gelegenheit, die sich ihm in einigem Glänze von Ehre darbot, erhaschte er, ohne allen scheinbaren Anlaß, und machte seinem Leben auf eine sehr schmerzhafte Art ein Ende. Wir haben zu unsrer Zeit viele Beispiele, sogar von Kindern, welche aus Furcht vor geringen Übeln sich das Leben genommen haben.

Über diesen Gegenstand sagt einer unter den Alten: Lucius Annaeus Seneca (um 2 bis 65, römischer stoischer Moralphilosoph, Lehrer Neros. Nachdem er in Ungnade gefallen war, befahl ihm Nero, sich selbst zu töten): Was müßten wir nicht alles fürchten, wenn wir sogar dasjenige fürchteten, was selbst die Feigheit als eine Zuflucht gewählt hat! Wenn ich hier ein Register von solchen Menschen aufführen wollte, die unter allen Geschlechtern und Ständen, von allen Sekten, in glücklicheren Jahrhunderten den Tod entweder gelassen erwartet oder freiwillig gesucht haben; gesucht, nicht bloß um den Übeln dieses Lebens zu entgehen, sondern einige sogar bloß um der Sattheit vom Leben ein Ende zu machen und andre wegen der Hoffnung, sich in einer andern Lage besser zu befinden: so würde ich kein Ende zu finden wissen. Denn die Anzahl derselben ist so groß, daß ich wirklich weniger Mühe hätte, diejenigen aufzuzählen, die ihn gefürchtet haben. Nur dies noch: Pyrrho oder Pyrrhon (um 360 bis um 270 v. u. Z., Griechischer skeptischer Philosoph, Agnostizist, leugnete die Möglichkeit der Wahrheitsfindung; eine Behauptung sei ebensogut beweisbar wie ihr Gegenteil; darum sollte der Mensch auf ein wertendes Urteil verzichten; nur die äußere Erscheinung sei faßbar; als menschliches Glücksideal lehrte er die Ataraxie, die Unerschütterlichkeit) befand sich eines Tages auf einem Schiff in heftigem Sturm, und zeigte denjenigen, die er um sich her am ängstlichsten sah, um sie aufzurichten, ein Beispiel an einem Schweine, welches mit auf dem Schiffe war und sich aus dem Ungewitter gar nichts machte.

Wollten wir uns wohl getrauen zu sagen, daß der Vorzug der Vernunft, worauf wir uns so viel zugute tun und vermöge dessen wir uns für Herren und Beherrscher der übrigen Schöpfung halten, uns zu unsrer Qual gegeben sei? Was soll uns die Kenntnis der Dinge, wenn wir dadurch nur feiger werden? Wenn wir dadurch die Ruhe und Gelassenheit verlieren, worin wir uns ohne sie befinden würden? Und wenn solche uns in eine kläglichere Fassung setzt als Pyrrhos' Schwein? Wollen wir die Verstandeskräfte, die uns zu unserer größten Wohlfahrt gegeben sind, zu unserm Verderben anwenden, indem wir uns gegen die Natur und die allgemeine Ordnung der Dinge auflehnen, welche will, daß jedermann seine Kräfte und Werkzeuge zu seinem Vorteile benutze? Gut, sagt man; mag eure Regel auf den Tod anwendbar sein! Was könnt ihr aber von der Armut sagen? Und was vom körperlichen Schmerz, welche Aristipp (Griechischer Philosoph aus dem 5. Jh. v. u. Z., Schüler des Sokrates; Haupt der kyrenäischen Schule) sah das Glück im Vergnügen begründet. Hieronymus Sophronius Eusebius Hieronymus (331 oder zwischen 340 und 350 bis 420: Lateinischer Kirchenlehrer und christlicher Heiliger) und die meisten alten Weisen für das ärgste Übel gehalten haben? Und wie es diejenigen mit der Tat bekannten, die es mit Worten leugneten? – Posidonius, aus Syrien stammender stoischer Moralphilosoph (um 135 bis 50 v. u. Z.), lag sehr schwer an einer hitzigen und schmerzhaften Krankheit danieder; Pompejus, besuchte ihn und entschuldigte sich, daß er zu einer so ungelegenen Stunde käme, ihn philosophieren zu hören. »Verhüten es die Götter«, antwortete ihm Posidonius, »daß der Schmerz so sehr mein Herr werde, mich zu verhindern, Betrachtungen über ihn anzustellen!« und begann alsobald von Verachtung der Schmerzen zu sprechen. Indessen kehrten sich die Schmerzen nicht daran und setzten ihm unaufhörlich zu; worüber er ausrief: »Macht, Schmerzen, was ihr wollt; ihr sollt mich doch nicht dahin bringen, zu sagen, daß ihr Übel seid!« Dies Geschichtchen, das mit solchem Triumphe erzählt wird, was beweist es für die Verachtung der Schmerzen? Es bestreitet bloß Worte. Und dennoch, warum unterbricht er sich in seiner Rede, wenn sie ihm nicht sehr wehe taten? Warum meint er ein so großes Ding zu tun, wenn er solche nicht Übel nennen will? Hier besteht doch nicht alles in der Einbildung. Wenn wir über die andern Dinge nur wähnen, so ist hier Gewißheit, die für sich spricht; unsre Sinne selbst sind Richter:
Qui nisi sunt veri, ratio quoque falsa sit omnis. Lucrez IV,436: Täuschen die Sinne, so ist alle Vernunft dahin.
Können wir unsrer Haut weismachen, daß sie beim Spießrutenlaufen gekitzelt werde? Unserm Gaumen, Aloetrank sei Burgunderwein? Pyrrhos' Schwein ist hier auf unsrer Seite. Es ist freilich ohne Furcht vorm Tode, aber wenn man es schlägt, schreit es und tobt. Wollen wir dem allgemeinen Gesetze der Natur Gewalt tun, nach welchem alles, was da lebt auf Erden, unter dem Leiden von Schmerzen zittert? Selbst die Bäume scheinen unter den Beschädigungen zu ächzen. Den Tod fühlt man nur durch Nachdenken, weil er eigentlich nur die vorübergehende Bewegung eines Augenblicks ist.
Aut fuit, aut veniet; nihil est praesentis in illa.
Morsque minus poenas quam mora mortis habet.  
Der erste Vers stammt aus einer Satire des Boëthius: Entweder war er, oder er kommt; bei ihm ist nichts Gegenwärtiges; der zweite aus Ovid, Heroid., Ariadne an Theseus 82: Nicht so sehr der Tod als das Warten auf den Tod ist eine Qual.

Tausend Tiere, tausend Menschen sterben, bevor sie vom Tode bedroht worden. Auch ist das, was wir beim Tode hauptsächlich zu fürchten haben, der Schmerz, sein gewöhnlicher Vorbote. Indessen, wenn ein heiliger Kirchenvater Glauben verdient, so heißt es:
Malam mortem non facit, nisi quod sequitur mortem. Augustin, De civ. Die I,11: Sterben ist kein Weh, ist das nur wohl, was drauf erfolgt.
Und ich möchte noch mit größerer Wahrscheinlichkeit sagen: Weder das, was vorm Tode hergeht, noch das, was auf ihn folgt, sind Zubehörden des Todes. Wir entschuldigen uns mit Unrecht. Und die Erfahrung hat mich überzeugt, daß es vielmehr das Peinliche in der Vorstellung vom Tode ist, was uns die Schmerzen peinlich macht; und daß sie uns deswegen doppelt martern, weil sie uns mit dem Tode dräuen. Da uns nun aber die Vernunft wegen unsrer Feigheit anklagt, daß wir eine so plötzlich kommende und vorübergehende, so unvermeidliche, so wenig schmerzhafte Sache fürchten, so greifen wir zu dem mehr scheinbaren Vorwande. Alle andren Schmerzen, welche keine andre Gefahr bei sich führen als die Schmerzen selbst, von denen sagen wir: sie sind nicht gefährlich. Zum Beispiel Zahnschmerzen oder Gichtschmerzen, so sehr sie auch martern; solange sie nicht wegen zu besorgendem Tode unter die Krankheiten gezählt werden.

Nun, wohlan! Wir wollen annehmen, daß wir am Tode hauptsächlich die Schmerzen in Betracht ziehen! So wie auch, daß die Armut nichts weiter Fürchterliches habe, als daß sie vermittelst des Hungers, des Durstes, der Kälte, der Hitze, des Nachtwachens, die sie uns bringt, in seinen Rachen werfe. Also wollen wir es hier bloß mit den Schmerzen zu tun haben! Ich räume ihnen ein, und zwar sehr gern, daß sie das Schlimmste sind, was uns befallen kann; denn ich bin der Mann, der ihnen so feind ist als jemand auf der Welt und sie um so mehr aufs möglichste vermeide, weil ich bisher, gottlob, keine große Gemeinschaft mit ihnen gehabt habe; aber dennoch sag' ich: Es steht bei uns, wo nicht sie zu vertilgen, wenigstens durch Geduld sie zu vermindern; und wenn auch der Körper darunter niederläge, doch die Seele und die Vernunft in ruhiger Fassung zu erhalten. Wenn dem nicht so wäre, was für Wert hätte dann Tugend, Tapferkeit, Stärke, Größe der Seele und männliche Entschlossenheit? Wo wäre der Schauplatz, sich zu zeigen, wenn sie keine Schmerzen mehr zu bekämpfen hätten?  
Avida est periculi virtus Seneca, De provid. 4: Tapferkeit geizt nach Gefahr., sagt Seneca. 
Wenn wir nicht mehr auf harter Erde zu schlafen, in voller Waffenrüstung die Mittagshitze zu ertragen, zu Pferde- und Eselsfleische unsre Zuflucht in Hungersnot zu nehmen haben, wenn wir nicht mehr in der Not wären, uns in Stücke zerhauen, Kugeln aus den Knochen und Splitter aus den Wunden ziehen, und diese selbst mit der Sonde durchwühlen und beizen und zusammennähen zu lassen, woher wollen wir dann den Vorzug erwerben, den wir über den gemeinen Haufen haben wollen? Es ist bei weitem nicht die Flucht vorm Übel und den Schmerzen, sagen die Weisen, oder ähnliche gute Taten, sondern die sind die wünschenswürdigsten, wobei die größte Gefahr und Mühe ist. 
Non enim hilaritate nec lascivia nec risu aut ioco comite levitatis, sed saepe etiam tristes firmitate et constantia sunt beati. Cicero, De fin. II,10: Nicht nur bei Scherz und Spiel, bei Lachen, Zeitvertreib und Wollust, des Leichtsinns Gefährten, herbergt des Lebens Glück. 
Denn auch der Mann von stillem Ernst findet es oft im festen Mute, womit er seine Übel trägt. Und aus diesem Grunde war es unsern Vätern unmöglich, sich überreden zu lassen, daß die Eroberungen durch Macht und Gewalt bei den Gefahren des Krieges nicht ehrenvoller wären als solche, die man bei aller Sicherheit durch listige Anschläge gewönne.
Laetius est, quoties magno sibi constat honestum. Lucan IX,404: Um so inniger freut die schöne Tat den Mann, je mehr sie ihn gekostet.
Auch das muß uns um so mehr trösten, daß nach dem Gange der Natur ein Schmerz, der heftig ist, nicht lange anhält, und wenn er lange dauert, leicht ist.
Si gravis, brevis; si longus, levis. Cicero, De fin. II,29: Ist er (der Schmerz) schwer, so ist er kurz; hält seine Dauer aber an, so ist er leicht.
Du wirst sie nicht lange fühlen, wenn du sie zu heftig fühlst, sie werden ihnen selbst oder dir ein Ende machen. Und beides läuft auf eins hinaus. Entweder du besiegst die Schmerzen, oder sie besiegen dich. 
Memineris maximos morte finiri; parvos multa habere intervalla requietis; mediocrium nos esse dominos: ut si tolerabiles sint, feramus; sin minus e vita, quum ea non placeat, tanquam e theatro exeamus. Cicero, De fin. 1,15: Vergiß es nicht: Die großen Schmerzen heilt der Tod; ihre Zeiten der Ruhe haben die kleinen. Derer zwischen beiden sind wir Herr: sonach ertragen wir, die zu ertragen sind. Ist ihre Last zu schwer, wird uns des Lebens Rolle lästig: wer wehrt uns, von der Bühne zu treten?«

Der all diese Erwägungen leicht und flüssig hinschrieb, muß darüber inzwischen wohl Bescheid wissen, denn er starb am 13. September 1592, also heute vor 425 Jahren: Michel de Montaigne.

Solange es denkende Menschen gibt, d.h. das Abendland nicht völlig dem Anstrum kulturloser Eindringlinge aus dem Orient und Afrika zum Opfer gefallen ist, wird sein Ruhm dauern. 

Also: wie lange wohl noch? 

»Que sais-je?« hätte Montaigne geantwortet. Ja, was weiß ich ...

5 Kommentare:

  1. Tja. Ohne die sog. kulturlosen Eindringlinge hätte der gute Montaigne diese schönen Reflexionen gar nicht schreiben können. Weil er ohne die Maurischen Jahrhunderte gar nichts von dem Denkern und Dichtern der Antike wüsste.
    Aber das sind für unsere hochkulturellen Krawallbrüder ja nur Fake News. Die Mauren in Spanien sind für sie Steinzeit.

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  2. Gähn.

    Das Märchen, daß das Erbe der Antike dem Abendland bloß durch die edelmütige Vermittlung von »Mauren« zugänglich gemacht worden sei, ist ebenso alt wie falsch.

    Es ist etwa so richtig, wie die (freilich jüngere) türkische Behauptung, daß Deutschland sein Wiedererstehen nach dem 2. Weltkrieg dem hingebungsvollen Einsatz türkischer Spezialisten verdankt.

    Cher Anonym, Sie sollten nicht jeden Blödsinn unbesehen glauben, den irgendein mulitikulti-enthusiasmierter Gutmensch daherschwafelt.

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  3. Ich "glaube" gar nichts, sondern habe über Jahrhzehnte zur Kenntnis genommen, was in sämtlichen halbwegs seriösen historischen Darstellungen über die Zeit der Mauren zu lesen steht und was an Universitäten dazu geplehrt wird.

    Wenn das alles für Sie schweinesystemdiktaturgelenkte Fake news sind, muss ich das so stehen lassen, das werden Sie bis ans Ende Ihrer Tage glauben, weil es ideologisch so sein muss.

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  4. Cher Anonym,

    doch, Sie "glauben". Denn der Verweis auf das, was "an Universitäten gelehrt" wird, deutet bereits auf eine hohe Glaubensbreitschaft. Lesen Sie darüber bspw. bei Feyerabend, nur so ein kleiner Ratschlag ...

    Sie haben einen Konsens "zur Kenntnis genommen", was an sich noch nichts schlechtes ist, und erst dann problematisch wird, wenn man sich mit einem Problem näher beschäftigen will — solange mir Fragen bspw. der Molekülstruktur von Caesium-Verbindungen schnurzegal sind, werde ich mich an dem orientiern, was "an Universitäten gelehrt" wird; sollte mich ein spezielles Interesse rühren, würde ich mich nicht einfach damit begnügen, weil ich bei Themen, in die ich mich vertiefte, aus eigener Erfahrung weiß, wie viel Ignoranz, ja Lüge vom Katheder träufen kann ...

    Speziell zum Thema sollten Sie bspw. Richard Fletcher, »Moorish Spain« lesen. Da fallen Ihnen die Augen raus, wenn Sie damit vergleichen, was an Geschichtsklitterung handelsüblich dargeboten wird. Und dieser Fletcher ist ja nicht "irgendwer", nur so dazugesagt ...

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  5. Wen Fletchers "Moorish Spain" zu stark enerviert, dem kann man zumindest das Kapitel "Ein angenehmes Märchen; Die Wiederentdeckung und Neugestaltung des muslimischen Spanien" in der Essaysammlung "Islam und Toleranz" von Siegfried Kohlhammer empfehlen.
    Im übrigen dürfte die Überlegung erlaubt sein, warum der Islam, der ja angeblich die Philosophie der Antike aus dem Fluß Lethe gefischt haben soll, von der geistigen Offenheit nachsokratischer Philosophen wie zum Beispiel dem von Montaigne hochgeschätzten Lukrez (mit seiner Theorie der Atome ein Wegbereiter der Moderne) nichts Nennenswertes übernommen hat. Die Wiederentdeckung des fast 1500 Jahre verschollenen Buches des Lukrez, De Rerum Natura, verdanken wir denn auch nicht einem findigen islamischen Schriftgelehrten sondern dem Humanisten Poggio Bracciolini aus Florenz, in einer Klosterbibliothek in Fulda, im Jahr 1417.

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