»Die Menschen (sagt eine alte griechische Sentenz) werden von den
Meinungen gequält, die sie von den Dingen hegen, und nicht von den
Dingen selbst. Man hätte schon einen großen Schritt zur Erleichterung
des menschlichen Elendes gewonnen, wenn man diesem wahren Gedanken
durchgängig und allenthalben Eingang verschaffen könnte. Denn wenn das
Übel keinen andern Eingang bei uns findet als durch unser Urteil, so
scheint es in unsrer Macht zu stehen, es zu verachten oder zum besten zu
kehren. Wenn die Sachen sich nach unserm Gutachten fügen, warum lenken
und beherrschen wir sie nicht zu unserm Vorteile? Wenn das, was wir Übel
und Pein nennen, an sich selbst weder Pein noch Übel ist, sondern nur
insofern ihm unsre Phantasie diese Eigenschaft gibt, so steht es bei
uns, es zu verwandeln? Und da wir die Wahl haben und da nichts uns
zwingt, so sind wir ganz sonderbare Toren, uns steif und fest auf der
Seite zu halten, die uns den meisten Verdruß macht, und den Krankheiten,
der Armut und der Verachtung einen so bittern, widrigen Geschmack zu
geben, wenn wir solchen einen guten geben können? Und wenn das Glück
nichts weiter hergibt als die Materie, so ist es unsre Sache, ihr die
Form zu geben.
Aber, laß sehen, ob der Satz Stich hält, daß das, was wir Übel
nennen, an sich kein Übel ist, oder (welches auf eins hinausläuft) ob
wenigstens so wie es ist, bei uns selbst es stehe, ihm einen andern
Geschmack, eine andre Gestalt zu geben? Wenn das ursprüngliche Wesen der
Dinge, die wir scheuen, die eigentümliche Macht hätte, sich uns nach
eigner Willkür zu unterwerfen, so würde es diese Willkür über alle
Menschen auf einerlei Art behaupten. Denn alle Menschen sind von
einerlei Gattung und sind, das Mehr
oder Wenigere
vorausgesetzt, mit einerlei Werkzeugen und Organen zum Wahrnehmen und
Schließen versehen. Nun aber zeigt die Verschiedenheit der Meinungen
ganz deutlich, daß sie nur auf Bedingung bei uns einziehen: Der eine
nimmt sie vielleicht bei sich auf für das, was sie wirklich sind; aber
tausend andre geben ihnen bei sich eine neue und ganz verkehrte
Beschaffenheit.
Wir halten den Tod, die Armut und körperliche Schmerzen für
unsre hauptsächlichsten Feinde. Wer weiß aber nicht, daß dieser Tod, den
einige das Schrecklichste aller Schrecknisse nennen, von andern der
einzige Hafen gegen die Stürme dieses Lebens, das höchste Gut der Natur,
die einzige Stütze unsrer Freiheit, das allgemeine und schnelle
Heilmittel gegen alle Übel genannt wird? Und daß, so wie etliche mit
Zittern und Zagen an ihn denken, andre ihn leichter ertragen als das
Leben? Jener beklagt sich über seine Leichtigkeit:
Mors utinam pavidos vita subducere nolles,
Sed virtus te sola daret!
Doch nichts mehr von so tapfern Gemütern! Theodorus antwortete dem , der ihn zu töten drohte: Du wirst
eine mächtige Tat verüben, wenn du's an Gewalt einer Bremse gleichtust.
Unter den Philosophen haben die meisten ihren Tod mit Fleiß beschleunigt
oder sind ihm mit allem Bedacht zuvorgekommen. Wie viele gemeine
Menschen sieht man zum Tode führen, und nicht etwa bloß zu einem
einfachen Tode, sondern begleitet von Schimpf und Schande und zuweilen
von den herbsten Qualen, die mit einer solchen Standhaftigkeit
erscheinen, der eine aus Hartnäckigkeit, der andre aus natürlicher
Einfalt, daß man keine Veränderung in ihrer gewöhnlichen Fassung
wahrnehmen kann. Sie beschicken ihr Haus, soweit sie dürfen, empfehlen
sich ihren Freunden, singen, halten Reden ans Volk und machen gar noch
zuweilen
Spaß und Scherz zum Lachen. Sie trinken auf das Wohl ihrer Bekannten, so gut wie Sokrates.
Einer, den man zum Galgen führte, sagte, man möchte sich ja
hüten, durch eine gewisse Gasse zu gehen; er liefe sonst Gefahr, daß ihn
ein Kaufmann anpackte, bei dem er noch von alters her an der Kreide
stünde. Einer sagte zum Scharfrichter, er solle ihm nicht an den Hals
greifen, er möchte sonst vor Lachen aufspringen, weil er sehr kitzlich
sei. Jener antwortete seinem Beichtvater, der ihm die Verheißung gab,
daß er heute noch mit unserm Erlöser zu Tische sitzen würde: Gehn Sie
nur hin und nehmen meinen Platz; denn ich habe Fasttag. Jener andre,
dem, als er zu trinken begehrt hatte, der Henker es durch Vortrinken
zubrachte, wollte ihm nicht nachtrinken, denn, sagte er, der könnte mir
eine böse Krankheit mitteilen. Alle Welt muß von Picard erzählen gehört
haben, dem man, als er bereits auf der Leiter stand, Gnade versprach
(wie unsre Justiz wohl zuweilen gestattet), wenn er ein gewisses Mensch,
das man ihm zeigte, heiraten wollte. Er betrachtete solches ein
Weilchen, merkte, daß das Mädchen hinkte und rief: Schnüre zu! Schnüre
zu! Das Ding geht schief! So erzählt man etwas Ähnliches, das sich in
Dänemark zugetragen haben soll. Einem Menschen nämlich, der verurteilt
war, den Kopf zu verlieren, bot man auf dem Blutgerüst unter ebensolcher
Bedingung Gnade an, die er aber ausschlug, weil das Mädchen, das man
ihm geben wollte, hohle Wangen und eine Spitznase hätte. Ein Bedienter
zu Toulouse, der Ketzerei wegen eingezogen wurde, wußte keinen andern
Grund seines Glaubens anzugeben, als weil es der Glaube seines Herrn
wäre; dies war ein junger Student, der mit ihm im Gefängnis saß, und
blieb der Bediente dabei, lieber zu sterben als sich überzeugen zu
lassen, daß sein Herr irren könnte. Wir lesen von den Bürgern der Stadt
Arras, daß, als der König Ludwig der Elfte solche einnahm, sich eine
ansehnliche Zahl von ihnen lieber hängen ließ als rufen wollte: Es lebe
der König!
Und unter den kriechenden Seelen der Hofnarren haben
sich einige
gefunden, die ihr Possenreißen selbst im Tode nicht haben lassen wollen.
Einer von ihnen schrie, als ihn der Henker von der Leiter stieß:
Aufgeschaut! Ein Wort, das er bei seinen Späßchen immer brauchte. Und
ein andrer, den man, in dem Augenblicke, da er den Geist aufgeben
wollte, längs dem Kamine auf einen Strohsack gelegt hatte, antwortete
dem Arzt, der ihn fragte, wo er denn eigentlich die Krankheit hätte:
zwischen der Bank und dem Kamin. Und als der Priester, der ihm die
Letzte Ölung geben wollte, seine Füße suchte, die er wegen der Schmerzen
an sich gezogen hatte: Sie werden sie wohl, sagte er, am Ende meiner
Beine finden. Denjenigen, der ihn ermahnte, er solle sich Gott
empfehlen, fragte er: Wer reist hin? Und als ihm dieser antwortete: Das
wirst du bald selbst sein, wenn's ihm gefällt, so versetzt' er: Sollt'
ich morgen abend wohl angelangt sein? Empfiehl dich ihm nur, verfolgte
der andre, du wirst bald dort sein. Nun, fuhr der erste fort, so ist's
wohl besser, daß ich ihm meine Empfehlungsschreiben selbst überbringe!
Im Königreich Narsingen werden noch jetzt die Weiber der
Priester mit den Leichen ihrer Ehemänner lebendig begraben. Alle übrigen
Eheweiber werden beim Leichenbegängnis der ihrigen lebendig verbrannt
und sind dabei nicht nur standhaft, sondern sogar fröhlich und munter.
Beim Tode eines Königs stellen sich nicht nur seine Gemahlinnen,
Kebsweiber, Günstlinge und alle Minister und Bediente aus dem Volke sehr
munter beim Feuer ein, wo sein Leichnam verbrannt wird, sondern suchen
auch die größte Ehre darin, wenn sie gewürdigt werden, ihrem Herrn
Gesellschaft zu leisten.
Während unsers letzten Krieges im Mailändischen, worin das Volk
über die abwechselnden Vorteile und Nachteile unwillig ward, faßte es
eine solche Bereitwilligkeit zum Tode, daß ich meinen Vater sagen gehört
habe, wie er es erlebt habe, daß sich wohl fünfundzwanzig Hausherrn in
einer Woche das Leben verkürzt hätten: ein Ereignis, das demjenigen nahe
kommt, was sich bei den Xanthiern zutrug, welche sich, als Brutus sie
belagerte, solchergestalt,
Männer, Weiber
und Kinder, der Wut zu sterben überließen, daß man weniger tut, um dem
Tode zu entfliehen, als diese taten, um dem Leben zu entgehen; so daß
auch Brutus kaum eine kleine Anzahl von ihnen zu retten vermochte.
Jede Meinung ist stark genug, um sich der Menschen auf Kosten
ihres Lebens zu bemeistern; der erste Artikel des kühnen Eides, den die
Griechen im Medischen Kriege
schwuren und hielten, lautete: Jedermann wolle lieber das Leben mit dem
Tode als die persischen Gesetze mit den seinigen vertauschen. Wie viele
Menschen sieht man nicht in den Kriegen der Türken mit den Griechen,
die lieber den Tod, und zwar einen sehr bittern Tod erleiden, als ihrer
Beschneidung entsagen und sich taufen lassen wollen. Beispiele, deren
keine Religion unfähig befunden wird.
Als die kastilischen Könige die Juden aus ihrem Reiche und Lande verbannt hatten, verkaufte ihnen der König Johann (
kopfweise um acht Taler die Freiheit, sich in seinem Reiche für eine
gewisse Zeit mit Sicherheit aufhalten zu dürfen, mit der Bedingung, daß
sie nach deren Verlauf es räumen sollten; und versprach ihnen alsdann
Schiffe herzugeben, die sie nach Afrika überfahren sollten. Als der Tag
erschienen und es verkündigt worden war, daß diejenigen, welche der
Bedingung nicht gehorchten, als Sklaven im Lande bleiben würden, gab man
eine ganz unhinlängliche Anzahl Fahrzeuge, und diejenigen, die sich
darauf einschifften, wurden durch die Schiffsleute so hart und bübisch
behandelt und unter andern Tücken, die sie ihnen erwiesen, so lange auf
dem Meere herumgeschleppt, bis sie ihren Mundvorrat völlig aufgezehrt
hatten und gezwungen waren, von ihnen so teuer und so lange zu kaufen,
ehe sie an Land gesetzt wurden, bis sie nichts mehr zu verkaufen hatten
als ihre bloßen Hemden. Als die Zeitung von dieser Unmenschlichkeit zu
denjenigen gelangte, welche im Lande geblieben waren, entschloß sich der
größte Teil davon zur Sklaverei; einige taten so, als ob sie die
Religion verändern wollten. Emanuel,
Nachfolger
des Königs Johann, setzte sie anfangs in Freiheit, und als er hernach
seine Meinung änderte, befahl er ihnen, das Land zu verlassen, und wies
ihnen drei Häfen an, wo sie sich einschiffen sollten. Er hoffte, sagt
der Bischof Osorius (ein nicht unbedeutender lateinischer
Geschichtsschreiber für unsre Zeiten), da das Geschenk der Freiheit
nicht gewirkt hätte, sie zum Christentum zu bekehren, so würde die
Schwierigkeit, sich den Diebereien der Schiffsleute auszusetzen und ein
Reich zu verlassen, worin sie große Reichtümer besäßen, um nach einem
fremden Lande überzusetzen, das sie nicht kannten, sie dazu vermögen.
Da
sich aber der König in seiner Hoffnung betrogen und die Juden völlig
entschlossen sah, die Fahrt zu unternehmen, so sperrte er zwei von den
Häfen, die er ihnen versprochen hatte, damit das Zaudern und andre
Unbequemlichkeiten doch einige bewegen möchte, sich zum Ziele zu legen,
oder er wenigstens Mittel hätte, sie alle an einem Orte zu häufen, um
ein Vorhaben auszuführen, das er über sie beschlossen hatte. Dieses
bestand darin: Er befahl, daß man alle Kinder unter vierzehn Jahren aus
den Händen der Eltern und aus ihrer Aufsicht nehmen, von ihrem Umgang
entfernen und an Orte bringen sollte, wo sie in unserer Religion
unterrichtet würden.
Er sagt, dieser Befehl habe ein entsetzliches Schauspiel
verursacht. Die natürliche Verbindung zwischen Eltern und Kindern, und
noch mehr, der Eifer, womit sie ihrer alten Religion anhingen, empörte
sich gegen diese gewalttätige Verordnung. Es war dabei nichts Seltenes,
Väter und Mütter zu sehen, die sich selbst entleibten; und als noch
traurigere Beispiele sah man, daß einige aus Liebe und Mitleiden ihre
jungen Kinder in tiefe Brunnen warfen und so das Gesetz umgingen.
Übrigens begaben sie sich, da der Termin abgelaufen war und sie keine
Mittel zur Abfahrt hatten finden können, wieder in die Sklaverei. Einige
davon wurden Christen, zu denen oder ihrer Nachkommenschaft
christlichem Glauben die Portugiesen jetzt noch, hundert Jahre nachher,
nur sehr wenig Vertrauen
haben; obgleich Gewohnheit und Länge der Zeit weit stärker zu dergleichen Veränderungen wirken als jeder andre Zwang.
In der Stadt Castelnaudari
ließen sich auf einmal fünfzig ketzerische Albigenser mit entschlossenem Mute lieber lebendig auf
einem Scheiterhaufen verbrennen, als daß sie ihrer Meinung entsagen
wollten.
Quoties non modo ductores nostri, sagt Cicero, sed universi
etiam exercitus, ad non dubiam mortem concurrerunt!
Ich habe einen meiner innigsten Freunde dem Tode mit Eifer
nachjagen sehen, und zwar mit wahrer Vorliebe, die durch allerlei Arten
von Überzeugung dergestalt in seinem Herzen eingewurzelt war, daß ich
ihm solche nicht auszureden vermochte, und die erste Gelegenheit, die
sich ihm in einigem Glänze von Ehre darbot, erhaschte er, ohne allen
scheinbaren Anlaß, und machte seinem Leben auf eine sehr schmerzhafte
Art ein Ende. Wir haben zu unsrer Zeit viele Beispiele, sogar von
Kindern, welche aus Furcht vor geringen Übeln sich das Leben genommen
haben.
Über diesen Gegenstand sagt einer unter den Alten:
Was müßten
wir nicht alles fürchten, wenn wir sogar dasjenige fürchteten, was
selbst die Feigheit als eine Zuflucht gewählt hat! Wenn ich hier ein
Register von solchen Menschen aufführen wollte, die unter allen
Geschlechtern und Ständen, von allen Sekten, in glücklicheren
Jahrhunderten den Tod entweder gelassen erwartet oder freiwillig gesucht
haben; gesucht, nicht bloß um den Übeln dieses Lebens zu entgehen,
sondern einige sogar bloß um der Sattheit vom Leben ein Ende zu machen
und andre wegen der Hoffnung, sich in einer andern Lage besser zu
befinden: so würde ich kein Ende zu finden wissen. Denn die Anzahl
derselben ist so groß, daß ich wirklich weniger Mühe hätte, diejenigen
aufzuzählen, die ihn gefürchtet haben. Nur dies noch: befand sich eines Tages auf einem Schiff in heftigem
Sturm,
und zeigte denjenigen, die er um sich her am ängstlichsten sah, um sie
aufzurichten, ein Beispiel an einem Schweine, welches mit auf dem
Schiffe war und sich aus dem Ungewitter gar nichts machte.
Wollten wir uns wohl getrauen zu sagen, daß der Vorzug der
Vernunft, worauf wir uns so viel zugute tun und vermöge dessen wir uns
für Herren und Beherrscher der übrigen Schöpfung halten, uns zu unsrer
Qual gegeben sei? Was soll uns die Kenntnis der Dinge, wenn wir dadurch
nur feiger werden? Wenn wir dadurch die Ruhe und Gelassenheit verlieren,
worin wir uns ohne sie befinden würden? Und wenn solche uns in eine
kläglichere Fassung setzt als Pyrrhos' Schwein? Wollen wir die
Verstandeskräfte, die uns zu unserer größten Wohlfahrt gegeben sind, zu
unserm Verderben anwenden, indem wir uns gegen die Natur und die
allgemeine Ordnung der Dinge auflehnen, welche will, daß jedermann seine
Kräfte und Werkzeuge zu seinem Vorteile benutze? Gut, sagt man; mag
eure Regel auf den Tod anwendbar sein! Was könnt ihr aber von der Armut
sagen? Und was vom körperlichen Schmerz, welche Aristipp
Hieronymus
und die meisten alten Weisen für das ärgste Übel gehalten haben? Und
wie es diejenigen mit der Tat bekannten, die es mit Worten leugneten? –
Posidonius, a lag sehr schwer an einer hitzigen und schmerzhaften Krankheit danieder; Pompejus, besuchte ihn und entschuldigte sich, daß er
zu einer so ungelegenen Stunde käme, ihn philosophieren zu hören.
»Verhüten es die Götter«, antwortete ihm Posidonius, »daß der Schmerz so
sehr mein Herr werde, mich zu verhindern, Betrachtungen über ihn
anzustellen!« und begann alsobald von Verachtung der Schmerzen zu
sprechen. Indessen kehrten sich die Schmerzen nicht daran und setzten
ihm unaufhörlich zu; worüber er ausrief: »Macht, Schmerzen, was ihr
wollt; ihr sollt mich doch nicht dahin bringen, zu sagen, daß ihr Übel
seid!« Dies Geschichtchen, das mit solchem Triumphe erzählt wird, was
beweist es für die Verachtung der Schmerzen? Es bestreitet bloß Worte.
Und dennoch, warum unterbricht er sich in
seiner
Rede, wenn sie ihm nicht sehr wehe taten? Warum meint er ein so großes
Ding zu tun, wenn er solche nicht Übel nennen will? Hier besteht doch
nicht alles in der Einbildung. Wenn wir über die andern Dinge nur
wähnen, so ist hier Gewißheit, die für sich spricht; unsre Sinne selbst
sind Richter:
Qui nisi sunt veri, ratio quoque falsa sit omnis.
Können wir unsrer Haut weismachen, daß sie beim
Spießrutenlaufen gekitzelt werde? Unserm Gaumen, Aloetrank sei
Burgunderwein? Pyrrhos' Schwein ist hier auf unsrer Seite. Es ist
freilich ohne Furcht vorm Tode, aber wenn man es schlägt, schreit es und
tobt. Wollen wir dem allgemeinen Gesetze der Natur Gewalt tun, nach
welchem alles, was da lebt auf Erden, unter dem Leiden von Schmerzen
zittert? Selbst die Bäume scheinen unter den Beschädigungen zu ächzen.
Den Tod fühlt man nur durch Nachdenken, weil er eigentlich nur die
vorübergehende Bewegung eines Augenblicks ist.
Aut fuit, aut veniet; nihil est praesentis in illa.
Morsque minus poenas quam mora mortis habet.
Tausend Tiere, tausend Menschen sterben, bevor sie vom Tode
bedroht worden. Auch ist das, was wir beim Tode hauptsächlich zu
fürchten haben, der Schmerz, sein gewöhnlicher Vorbote. Indessen, wenn
ein heiliger Kirchenvater Glauben verdient, so heißt es:
Malam mortem non facit, nisi quod sequitur mortem.
Und ich möchte noch mit größerer Wahrscheinlichkeit sagen: Weder das, was vorm Tode hergeht, noch das, was
auf ihn
folgt, sind Zubehörden des Todes. Wir entschuldigen uns mit Unrecht. Und
die Erfahrung hat mich überzeugt, daß es vielmehr das Peinliche in der
Vorstellung vom Tode ist, was uns die Schmerzen peinlich macht; und daß
sie uns deswegen doppelt martern, weil sie uns mit dem Tode dräuen. Da
uns nun aber die Vernunft wegen unsrer Feigheit anklagt, daß wir eine so
plötzlich kommende und vorübergehende, so unvermeidliche, so wenig
schmerzhafte Sache fürchten, so greifen wir zu dem mehr scheinbaren
Vorwande. Alle andren Schmerzen, welche keine andre Gefahr bei sich
führen als die Schmerzen selbst, von denen sagen wir: sie sind nicht
gefährlich. Zum Beispiel Zahnschmerzen oder Gichtschmerzen, so sehr sie
auch martern; solange sie nicht wegen zu besorgendem Tode unter die
Krankheiten gezählt werden.
Nun, wohlan! Wir wollen annehmen, daß wir am Tode hauptsächlich
die Schmerzen in Betracht ziehen! So wie auch, daß die Armut nichts
weiter Fürchterliches habe, als daß sie vermittelst des Hungers, des
Durstes, der Kälte, der Hitze, des Nachtwachens, die sie uns bringt, in
seinen Rachen werfe. Also wollen wir es hier bloß mit den Schmerzen zu
tun haben! Ich räume ihnen ein, und zwar sehr gern, daß sie das
Schlimmste sind, was uns befallen kann; denn ich bin der Mann, der ihnen
so feind ist als jemand auf der Welt und sie um so mehr aufs möglichste
vermeide, weil ich bisher, gottlob, keine große Gemeinschaft mit ihnen
gehabt habe; aber dennoch sag' ich: Es steht bei uns, wo nicht sie zu
vertilgen, wenigstens durch Geduld sie zu vermindern; und wenn auch der
Körper darunter niederläge, doch die Seele und die Vernunft in ruhiger
Fassung zu erhalten. Wenn dem nicht so wäre, was für Wert hätte dann
Tugend, Tapferkeit, Stärke, Größe der Seele und männliche
Entschlossenheit? Wo wäre der Schauplatz, sich zu zeigen, wenn sie keine
Schmerzen mehr zu bekämpfen hätten?
Avida est periculi virtus
, sagt Seneca.
Wenn wir nicht mehr auf harter
Erde zu
schlafen, in voller Waffenrüstung die Mittagshitze zu ertragen, zu
Pferde- und Eselsfleische unsre Zuflucht in Hungersnot zu nehmen haben,
wenn wir nicht mehr in der Not wären, uns in Stücke zerhauen, Kugeln aus
den Knochen und Splitter aus den Wunden ziehen, und diese selbst mit
der Sonde durchwühlen und beizen und zusammennähen zu lassen, woher
wollen wir dann den Vorzug erwerben, den wir über den gemeinen Haufen
haben wollen? Es ist bei weitem nicht die Flucht vorm Übel und den
Schmerzen, sagen die Weisen, oder ähnliche gute Taten, sondern die sind
die wünschenswürdigsten, wobei die größte Gefahr und Mühe ist.
Non enim
hilaritate nec lascivia nec risu aut ioco comite levitatis, sed saepe
etiam tristes firmitate et constantia sunt beati.
Und aus diesem Grunde war es unsern Vätern unmöglich, sich überreden zu
lassen, daß die Eroberungen durch Macht und Gewalt bei den Gefahren des
Krieges nicht ehrenvoller wären als solche, die man bei aller Sicherheit
durch listige Anschläge gewönne.
Laetius est, quoties magno sibi constat honestum.
Auch das muß uns um so mehr trösten, daß nach dem Gange der
Natur ein Schmerz, der heftig ist, nicht lange anhält, und wenn er lange
dauert, leicht ist.
Si gravis, brevis; si longus, levis.
Du wirst sie nicht lange fühlen, wenn du sie zu heftig fühlst,
sie werden ihnen selbst oder dir ein Ende machen. Und beides läuft auf
eins hinaus. Entweder du besiegst die Schmerzen, oder sie besiegen dich.
Memineris
maximos morte
finiri; parvos multa habere intervalla requietis; mediocrium nos esse
dominos: ut si tolerabiles sint, feramus; sin minus e vita, quum ea non
placeat, tanquam e theatro exeamus.
Der all diese Erwägungen leicht und flüssig hinschrieb, muß darüber inzwischen wohl Bescheid wissen, denn er starb am 13. September 1592, also heute vor 425 Jahren:
Michel de Montaigne.
Solange es denkende Menschen gibt, d.h. das Abendland nicht völlig dem Anstrum kulturloser Eindringlinge aus dem Orient und Afrika zum Opfer gefallen ist, wird sein Ruhm dauern.
Also: wie lange wohl noch?
»Que sais-je?« hätte Montaigne geantwortet. Ja, was weiß ich ...
Tja. Ohne die sog. kulturlosen Eindringlinge hätte der gute Montaigne diese schönen Reflexionen gar nicht schreiben können. Weil er ohne die Maurischen Jahrhunderte gar nichts von dem Denkern und Dichtern der Antike wüsste.
AntwortenLöschenAber das sind für unsere hochkulturellen Krawallbrüder ja nur Fake News. Die Mauren in Spanien sind für sie Steinzeit.
Gähn.
AntwortenLöschenDas Märchen, daß das Erbe der Antike dem Abendland bloß durch die edelmütige Vermittlung von »Mauren« zugänglich gemacht worden sei, ist ebenso alt wie falsch.
Es ist etwa so richtig, wie die (freilich jüngere) türkische Behauptung, daß Deutschland sein Wiedererstehen nach dem 2. Weltkrieg dem hingebungsvollen Einsatz türkischer Spezialisten verdankt.
Cher Anonym, Sie sollten nicht jeden Blödsinn unbesehen glauben, den irgendein mulitikulti-enthusiasmierter Gutmensch daherschwafelt.
Ich "glaube" gar nichts, sondern habe über Jahrhzehnte zur Kenntnis genommen, was in sämtlichen halbwegs seriösen historischen Darstellungen über die Zeit der Mauren zu lesen steht und was an Universitäten dazu geplehrt wird.
AntwortenLöschenWenn das alles für Sie schweinesystemdiktaturgelenkte Fake news sind, muss ich das so stehen lassen, das werden Sie bis ans Ende Ihrer Tage glauben, weil es ideologisch so sein muss.
Cher Anonym,
AntwortenLöschendoch, Sie "glauben". Denn der Verweis auf das, was "an Universitäten gelehrt" wird, deutet bereits auf eine hohe Glaubensbreitschaft. Lesen Sie darüber bspw. bei Feyerabend, nur so ein kleiner Ratschlag ...
Sie haben einen Konsens "zur Kenntnis genommen", was an sich noch nichts schlechtes ist, und erst dann problematisch wird, wenn man sich mit einem Problem näher beschäftigen will — solange mir Fragen bspw. der Molekülstruktur von Caesium-Verbindungen schnurzegal sind, werde ich mich an dem orientiern, was "an Universitäten gelehrt" wird; sollte mich ein spezielles Interesse rühren, würde ich mich nicht einfach damit begnügen, weil ich bei Themen, in die ich mich vertiefte, aus eigener Erfahrung weiß, wie viel Ignoranz, ja Lüge vom Katheder träufen kann ...
Speziell zum Thema sollten Sie bspw. Richard Fletcher, »Moorish Spain« lesen. Da fallen Ihnen die Augen raus, wenn Sie damit vergleichen, was an Geschichtsklitterung handelsüblich dargeboten wird. Und dieser Fletcher ist ja nicht "irgendwer", nur so dazugesagt ...
Wen Fletchers "Moorish Spain" zu stark enerviert, dem kann man zumindest das Kapitel "Ein angenehmes Märchen; Die Wiederentdeckung und Neugestaltung des muslimischen Spanien" in der Essaysammlung "Islam und Toleranz" von Siegfried Kohlhammer empfehlen.
AntwortenLöschenIm übrigen dürfte die Überlegung erlaubt sein, warum der Islam, der ja angeblich die Philosophie der Antike aus dem Fluß Lethe gefischt haben soll, von der geistigen Offenheit nachsokratischer Philosophen wie zum Beispiel dem von Montaigne hochgeschätzten Lukrez (mit seiner Theorie der Atome ein Wegbereiter der Moderne) nichts Nennenswertes übernommen hat. Die Wiederentdeckung des fast 1500 Jahre verschollenen Buches des Lukrez, De Rerum Natura, verdanken wir denn auch nicht einem findigen islamischen Schriftgelehrten sondern dem Humanisten Poggio Bracciolini aus Florenz, in einer Klosterbibliothek in Fulda, im Jahr 1417.