Freitag, 28. Juli 2017

Carl Jentsch


... starb heute vor hundert Jahren, am 28. Juli 1917 in Bad Ziegenhals, Oberschlesien. Carl Jentsch? Muß man den kennen? Wenn doch nicht einmal die Wikipedia ihn kennt (außer als leeren Link auf einer Namensseite) ...

Sein Leben war das eines nonkonformistischen Menschen κατ' ἐξοχήν: geboren in eine konfessionelle Mischehe, konvertierte er mit dreizehn Jahren zum Katholizismus (sein ev.-luth. Vater hatte die Familie verlassen), studierte Theologie und wurde 1856 zum Priester geweiht. Als er sich 1870 öffentlich gegen den Syllabus errorum Pius' IX und das Unfehlbarkeitsdogma des Ersten Vatikanischen Konzils auflehnte, gelang es noch, ihn gegen sein Gewissen zu einem Widerruf zu nötigen, 1875 schloß er sich aber den Altkatholiken an, wurde dort Pfarrer in Offenbach, Konstanz und Neiße, bis er sich 1881 wegen zunehmender Entfremdung vom Altkatholizismus als auch einer immer hinderlicher werdenden Schwerhörigkeit entschloß, das Pfarramt niederzulegen und als freier Schriftsteller das Leben zu fristen.

In den folgenden Jahrzehnten war er für nicht konfessionell allzu engherzige, bürgerliche Kreise einer der führenden Schriftsteller zu Zeitfragen, der in durchaus eigenständiger Weise die herrschenden Stömungen und Wandlungen (»Wandlungen« ist bezeichnenderweise auch der Titel der lesenswerten Lebenserinnerungen, die er in zwei Teilen 1896 und 1905 veröffentlichte).

Mit einem (wie er bekannte) »reizbaren Gerechtigkeitsgefühl« ausgestattet, schuf er bemerkenswerte Abhandlungen, wie z.B. »Weder Kommunismus noch Kapitalismus« (1893). Religiöse und ethische Probleme behandelte er in Freiheit und ohne Gehässigkeit in facettenreichen Werken wie »Christentum und Kirche in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« (1909), und machte sich zukunftsweisende Gedanken über eine politische Neuordnung Europas (»Neue Ziele, neue Wege«, 1894; »Zukunft des deutschen Volkes«, 1905), die er in einem freien Bund mittel- und westeuropäischer Staaten, die in Unabhängigkeit ein einheitliches Handels- und Wirtschaftsgebiet schaffen sollten, am sichersten verwirklicht sah. Ein »Europa der Vaterländer« — über ein halbes Jahrhundert, bevor dieser Begriff von den Gründungsvätern der EWG gedacht wurde!

Überaus populär wurde — über seinen Tod hinaus bis 1926 in acht Auflagen gedruckt — seine »Volkswirtschaftslehre«, die ein zeitgenössischer Rezensent wie folgt beschrieb:
Eine angenehm lesbare, frisch und klar geschriebene knappe Darstellung des Volkswirtschaftslehre [...] In irgendeine wissenschaftliche oder parteipolitische Schule lassen sich diese Darstellungen [...] nicht einregistrieren; sie gehen ihren besonderen Weg für sich und bestreben sich im Zeitalter der verwirrenden Schlagworte dem gesunden Menschenverstande nach Möglichkeit zu seinem Recht zu verhelfen
Ein Urteil, dem sich LePenseur nach ihrer Lektüre nur anschließen kann! Natürlich ist manches darin inzwischen durch die Erkenntnisse eines v. Mises et al. überholt — aber selten vermag ein Werk, das sich mit dieser doch eher trockenen Materie befaßt, so sehr zu fesseln, wie dieses kleine, bewußt als »populär-wissenschaftliche« Darstellung geplante Werk.

1913 zeichnete ihn die Universität Breslau mit einem philosophischen Ehrendoktorat aus. Von vielen als »Nestor des deutschen Schrifttums« bezeichnet, starb er unvermutet und bei völliger körperlicher und geistiger Frische im 84. Lebensjahr bei seinem seit Jahren üblichen Erholungsurlaub in Bad Ziegenhals.

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