Samstag, 19. November 2016

»Homunculus«

alias Sigismund von Radecki (* 19. November 1891 in Riga; † 13. März 1970 in Gladbeck): in Literaturlexika, und selbst dort nur am Rande, findet man ihn; gelegentlich in Wühlkästen von Antiquariaten. Bände mit feuilletonistisch angehauchten, kurzen Essays „über Gott und die Welt“ (nein, keine Angst, p.t. libertär-agnostische Leserschaft — kein „religiöser Autor“ im engeren Sinne wird da vorgestellt …), mit etwas rätselhaften Titeln wie bspw. „Gesichtspunkte“, „Bekenntnisse einer Tintenseele“, „Wort und Wunder“, „Das Schwarze sind die Buchstaben“, oder „Weisheit für Anfänger“.

Sigismund von Radecki (dessen Namen man, bitteschön, nicht wie ein diminuiertes „Rad-Eck“, sondern wie den des österreichischen Feldmarschalls Radetzky — der vom gleichnamigen Marsch, und mit dem unser Sigismund übrigens über fünf Ecken verwandt war —, und auf der zweiten Silbe betont ausspricht, aber das nur nebenfüglich …) war einer der baltendeutschen Schriftsteller, die im 20. Jahrhundert die deutsche Literatur durch ihre mehr oder weniger erzwungene oder doch „nahegelegte“ Emigration (zuerst vor der Russifizierung der Zarenzeit, nach 1918 wegen des rabiaten Nationalismus der kleinen, frisch der Geschichtslosigkeit entronnenen Baltenvölkchen) und damit ganz Deutschland bereicherten: ein Werner Bergengruen, Eduard von Keyserling oder Frank Thieß fallen einem spontan dazu ein. Radecki gesellt sich dazu — mit leichtem Mißtrauen von der Literaturkritik beäugt, die mit den „Feuilletonschreibern“ nie so wirklich etwas anzufangen wußte. Denn da fehlt irgendwie der Ernst an der Sache …

Feuilleton und Feuilleton sind freilich zwei Paar Schuhe: die „Adabei“-Kolumne in der Kronenzeitung ist mit den „Kleinkunstwerken“ (Betonung auf „Kunst“, nicht auf „klein“!) bspw. eines Alfred Polgar nicht ernstlich zu vergleichen. Und Radecki ist eindeutig in der Kategorie „Polgar“ angesiedelt, und sogar darüber. Denn Polgar sah die Welt, skeptisch und überlegen, wie durch die Scheiben eines kultiviert-noblen Wiener Kaffehauses. Redecki nahm hingegen bisweilen auch seinen Platz in einer Kathedrale, auf dem Exerzierplatz einer Kaserne, oder in der Einsamkeit eines Waldes ein — also lauter Orte, an die versetzt man sich Polgar kaum vorzustellen mag.

Und wenn Radecki über — scheinbare — Alltäglichkeiten und Dutzendmenschen plaudert, tut er das mit einer Prägnanz, die den berufsmäßigen Porträtisten (als welcher er sich ja auch einige Jahre lang durchschlug) verraten. Nehmen wir z.B. seinen Essay „Das Gesicht“:
Als Porträtzeichner macht man bald die erstaunliche Entdeckung, daß die wenigsten Menschen wissen, wie sie eigentlich aussehen. Das hat einen körperlichen und einen geistigen Grund. Man kennt sich vor allem aus dem Spiegel, welcher bekanntlich links und rechts vertauscht. Je lebensvoller ein Gesicht ist, das heißt, je mehr dessen Hälften bei aller Regelmäßigkeit differieren, um so unähnlicher wird das Spiegelbild — und um so unähnlicher auch die Vorstellung, die der Mensch von seinem Gesicht hat. Zweitens aber trägt jeder ein Ideal, eine Luxusausgabe von sich still im Busen: nicht ganz mit Unrecht, da ja nur den wenigsten die bloße Existenz als Daseinsgrund genügt. […]
Dieses Idealbild, das jeder Mensch von sich hat, ist ein anderes bei Männern und ein anderes bei Frauen. Der Mann baut seines aus dem Geist, aus den in ihm schlummernden Möglichkeiten des Charakters und der Begabung — und glaubt nun, daß seine Kinnbacken und seine Stirnpartie davon deutlich Kunde geben. Falls sein Geldbeutel noch nicht zeige, was für ein Mensch er eigentlich ist, so zeige es doch mindestens sein Gesicht! Oder er klebt sich imitativ an einen vorhandenen Idealtypus an, beispielsweise an Goethe, dem er dann auch in Haartracht und ähnlichem zu folgen bestrebt ist. […] Dabei ist zuzugeben, daß der Wille das Gesicht umgestaltet. Man vergleiche nur Schauspielergesichter in ihrer Jugend und in ihren älteren Jahren: wie da später alle Züge, alle Gesichtserker und -höhlen überdeutlich hervorgetrieben sind, als ob sie von der fünften Galerie gemeißelt wären. Der große Mensch, mag ihm sonst auch alles mißlungen sein, ein Kunstwerk schafft er sicherlich: sein Gesicht! Andererseits gibt es Menschen, die mit den bedeutendsten Physiognomien umherlaufen, bis man merkt, daß sie selber dumm und die Gesichter bloß ererbt sind. Im Laufe der Generationen ist hier das vorschwebende Idealbild nicht nur erreicht, sondern schon wieder halb verlassen worden. „He lives not up to his face“, sagt der Engländer.

(„Weisheit für Anfänger“, Freiburg/Heidelberg 1981, S. 37 f.)
Schon dieser Ausschnitt zeigt: man kann einen echten Radecki nicht mit ein paar Worten, kaum mit einem Satz „zitieren“. „Wikiquote“ ist für seinen subtilen Wortwitz, der eben der längeren (wenn auch nicht langen) Periode bedarf, tödlich wie das Beil des Scharfrichters. Radecki war ein „Feuilletonist“ — auch kleinere „Blättchen“ sind, beschrieben, immer noch Blätter! — und kein Aphoristiker. Gewiß: seine Texte wimmeln nur so von munter blitzenden, übermütigen Einfällen — etwa wenn er im oben anzitieren Essay etwas später zu den damals typischen Hochzeitsbildern in den Schaukästen von Provinzphotographen die süffisante Bemerkung fallen läßt: „Fast rührend, wie die Bräute lieblich und glücklich auszusehen suchen, wie sie den Arm um den harpunierten Bräutigam legen, als ob er immer noch türmen könnte.“ Aber das sind kleine Aperçus, die erst vor dem passenden Hintergrund so recht aufblitzen! Obwohl — manches Bonmot ist einfach auch in aller Kürze unschlagbar: „Die Armbanduhr ist die Handfessel der Zeit“, „Deutscher Humor ist, wenn man trotzdem nicht lacht“, „Unser aller Beruf ist es, Mensch zu sein, aber wer hat schon den Ehrgeiz?“, oder das herrliche: „Kitsch ist Kunst, gescheitert am fehlenden Widerstand.“ 

Entscheidender aber als das Erlebnis seiner Emigration, die Radecki erst über verschiedene Um- und Abwege (Radecki war überhaupt ein großer Reisender: „Man reist, weil es auch in der Schule des Lebens schwer ist, immer still auf einem Platz zu sitzen“ ...) nach Deutschland führte, war wohl für ihn seine Konversion zur Katholischen Kirche im Jahr 1931, ausgelöst durch seine Begegnung mit den Schriften des großen englischen Theologen des 19. Jahrhunderts, John Henry Kardinal Newman.

In seinem Büchlein „Wort und Wunder“ finden sich berührende Zeugnisse dieser spirituellen „Metanoia“, die aus dem knorrigen, nördlichen Protestanten erst mit vierzig Jahren jenen heiter-gelassenen Menschen schufen, den seine späteren Schriften so deutlich erkennen lassen. Auch seine enge Freundschaft mit Karl Kraus (der damals freilich die katholische Kirche im Protest gegen die, wie er’s empfand, Kulturtümelei der Salzburger Festspiele bereits wieder verlassen hatte) prägte Radecki, und stattete ihn mit jenem unbestechlichen Sensus gegen Phrasenhaftigkeit und Schludrigkeit des Ausdrucks (beides nur zu oft begangene Fehler in der Feuilletonistik!) aus, der seine kurzen wie längeren Aufsätze stets auszeichnet.

Neben seiner „Eigenproduktion“ ist bei Radecki auch seine fürwahr „nachschöpferische“ Tätigkeit als Übersetzer (aus dem Russischen, hier v.a. für Gogol und Tschechow, aber auch aus dem Englischen), besonders hervorzuheben. Und auch seine Herausgabe der „Ausgewählten Werke“ von Ludwig Speidel (1947) sei erwähnt.

Zum Schluß des (posthumen) Sammelbandes „Bekenntnisse einer Tintenseele“ (Freiburg/Heidelberg 1980) wird von ihm selbst „Einiges über Radecki“ berichtet:
Geboren wurde er 1891 in Riga am Totlebenboulevard; das Hintergäßchen des Hauses hieß „Der Katzensprung“. Als er mit drei Jahren zum ersten Male das Meer sah, lief er voll Entzücken sogleich hinein, so daß sein Kindermädchen ihn gerade noch im letzten Moment, als die Geschichte schon bis an den Mund ging, herausholen konnte.
Zu Neujahr 1900 wollte Radecki dieses Ereignis privat für sich feiern und beschloß, das Wort „Hase“ derart auszusprechen, daß dessen Hinterläufe noch ins alte Jahrhundert kamen, dessen Vorderläufe jedoch bereits ins neue hineinsprangen: Ha-se. Bis „Ha-“ kam er noch, aber dann fing am Nachthimmel ein solches Feuerwerk an, daß dem kleinen Radecki das „-se“ fast im offenen Munde erstorben wäre.
Und so berichtet der Schriftsteller in der dritten Person höchst lapidar über sich weiter; über seine Schul- und Universitätszeit, seine Versuche, als Kriegsfreiwilliger den Ersten Weltkrieg mitzumachen (aber weder von den Russen, noch zuletzt, nach dem Frieden von Brest-Litowsk, von den Deutschen benötigt zu werden), seine Teilnahme bei der Stoßtruppe der Baltischen Landwehr, die Bekanntschaft mit Karl Kraus und vieles mehr. Und er beschließt (und damit sei auch dieser Artikel beschlossen) diese Kurzbiographie mit den Sätzen:
Des weiteren wäre zu berichten, daß er drei Jahre Schauspieler war, daß er eine Ausstellung von 62 Porträtzeichnungen veranstaltete, und außerdem, daß er 1931 katholisch wurde. Diesen Schritt — wohl den vernünftigsten, den er je getan — verdankte er dem Studium von Newman’s „Development of Christian Doctrine“. Radecki erkannte, daß nur das Christentum für die beiden ihm wichtigsten Dinge, nämlich Wort und Geschlecht, die tiefste, die wahre Erklärung hat.
Die Nazizeit war ihm ein Beispiel dafür, wie etwas, das in seinem Wesen entsetzlich ist, zugleich komisch sein kann. Man wußte sich kaum zu retten — teils vor der Gestapo, teils vor Lachen. Radecki kam aus dem zwölfjährigen Massenwahnsinn mit einem Granatsplitter davon, der ihm zwar das ganze Bein aufriß, aber merkwürdigerweise gar nicht schmerzte. Seitdem lebt er in der Schweiz, weil die Luft in den Bergen reiner ist. — Er hat bis jetzt zwanzig Bücher geschrieben. Seine Liebhabereien sind Segeln, Jagd und Kalligraphie.
Die Herausgeberin des Bandes setzte im Nachwort hinzu: Wir haben nichts hinzuzufügen, außer der Ergänzung, daß Sigismund von Radecki wegen eines schweren Nierenleidens im Februar 1970 nach Gladbeck übergesiedelt und dort am 13. März desselben Jahres gestorben ist — mit Plänen für seine Lebenserinnerungen befaßt und geistig klar bis zum letzten Tag.

Lebte er noch, könnte Sigismund von Radecki heute seinen 125. Geburtstag feiern, und stünde damit unangefochten im Guinessbuch der Rekorde. So steht er aber bloß in diversen Literaturgeschichten und vielen Antiquariaten. Es wird unter anderem auch an den Lesern dieser Zeilen liegen, ob sie ihn von dort für sich zu neuem Leben befreien …


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P.S.: wer in den Antiquariaten nicht fündig wurde, hat in einem vor zwei Jahren erschienenen Auswahlband seiner Feuilletons (Die Stimme der Straße. Feuilletons. Hg. und mit einem Nachwort von Hans Dieter Schäfer (Mainzer Reihe, Neue Folge, Band 14). Wallstein Verlag, Göttingen 2014, ISBN 978-3-8353-1513-6) eine erste Gelegenheit, den Schriftsteller kennenzulernen.

2 Kommentare:

  1. Danke für Ihre interessante literarische Schatzsuche!

    Im Zusammenhang mit dem Baltikum fällt mir spontan Agnes Miegel ein.

    Gruß!

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  2. ... naja, aber nur, wenn Sie Ostpreußen bereits zum Baltikum zählen!

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