Jugenderinnerungen: meine Mutter schwärmte so lange vom "Mann im Hut" und "Mars im Widder", bis der Halbwüchsige irgendwann sich bequemte, ein Buch des Gepriesenen in die Hand zu nehmen. Der "Mann im Hut" wurde bald weggelegt, ebenso der "Mars im Widder". Aber der "Graf von Saint Germain" verstand zu fesseln. Und zog in seinem Sog die Lektüre der bereits abgetanen beiden anderen Werke nach sich. Und die von "Beide Sizilien", des wohl schönsten Werks dieses Autors. Aber das ist auch Geschmackssache ...
Ein Fernsehinteview mit dem streitbaren alten Autor, in dem dieser anhand von Sissi-Filmen seiner Abneigung gegen das ehemalige österreichische Kaiserhaus zornig Ausdruck verlieh, kurz vor seinem Tode aufgenommen und nach seinem Tod, heute vor vierzig Jahren, am 3. Juli 1976, nochmals in der abendlichen "Zeit im Bild" als Zusammenfassung gebracht.
Die ostentative Niederlegung der PEN-Club-Präsidentschaft wegen der Verleihung des Literatur-Nobelpreises an einen Sekundär-Schriftsteller wie Böll. Ein streitbarer Mann, fürwahr! LePenseurs langjähriger Haus- & Hofantiquar, mittlerweile leider auch schon Geschichte, erzählte ihm die gut verbürgte Anekdote, daß Lernet-Holenia, einst am Wühlkasten einer Buchhandlung vorbeikommend, darin für einen sehr niedrigen Preis einen seiner Romane entdeckte, und wutbebend in das Geschäft ging, um den an der Kassa stehenden Angestellten anzuschnauzen, er wolle auf der Stelle mit dem Chef der Buchhandlung sprechen, denn es sei eine Unverschämtheit, einen solchen Roman für einen derart lächerlich geringen Preis zu verschleudern! Der junge Mann, der keine Ahnung hatte, wer ihm da zornschnaubend vis-à-vis stand, zuckte mit den Achseln und meinte leichthin, der Chef werde schon seine Gründe für diesen Schnäppchenpreis haben, und der Roman eben nicht mehr wert sein. Über die ihm darob erteilten Ohrfeigen wurde später beim Bezirksgericht Wien-Innere Stadt verhandelt ...
Doch zurück zum "Grafen von Saint Germain". Es ist ein enigmatisches Buch, das man wieder und wieder lesen kann, ohne es erschöpfen zu können. Auf der Website, die die "Internationale Alexander Lernet-Holenia Gesellschaft" dem Andenken des Dichters gewidmet hat, findet sich auch ein längerer, überaus lesenswerte Essay über den Roman, in dem auch ein der ersten Niederschrift vorangestelltes Gedicht, das bislang unpubliziert geblieben war, zitiert wird. Und dieses enthüllt die Größe des Dichters, des Lyrikers Lernet-Holenia allein dadurch, daß es in freien Rhythmen und nicht gereimt, und doch nicht ungereimt, sondern von formaler Strenge sondergleichen den Leser trifft. Es ist ein in seinen Symbolen rätselhaft ergreifendes, und jedenfalls ein großes Gedicht über den Niedergang der Donaumonarchie, und wohl nicht nur dieser ...
Ich sah, auf Adlern reitend, geharnischte
Dämonen streiten, sah die gespenstischen,
die leeren Helme, sah die leeren
Panzer sich rühren wie Gliederpuppen.
Ich sah die Zügel, die von den Schnäbeln zu
den leeren Handschuhn gingen, ich sah, vom Schlag
der langen Sporen, die an keinen
Fersen saßen, die Federn stieben.
Ich sah die leeren Ärmel aus goldenem
Brokat, im Flugwind prasselnd, die Bogen ziehn,
ich hörte Pfeile mit gehöhlten
Spitzen schrillen und Sehnen klingen.
Ich sah Kleinode drohen, den Schulterschutz
wie Schwingen schlagen, hörte die Rüstungen
aus Kuhhautschuppen wie zermalmtes
Eis an wogenden Ufern klirren.
Ich sah die Adler steigen und sinken, sah
sie sich zerfleischen, sah die Unsichtbaren
im hohlen Harnisch, unverletzlich,
von ihren sterbenden Tieren steigen.
Wie Schiffe, die sich brennend im Meere, wie
sich wunde Wale wälzen, wie Rosse auf
dem Rasen, wälzten sich die Adler
in der blutigen Luft und trieben
bald da, bald dorthin, bis sie der Winterwind
ergriff, und über riesige Eichen trug
er sie, umkreist von Schwärmen zornig
kreischender Krähen, hinweg nach Osten.
Lernet-Holenia, der berühmt war für die Formstrenge seiner Lyrik, kann sie eben auch transzendieren, wie es nur ein Großer kann ...
Was die Romane und Erzählungen Lernet-Holenias betrifft, gibt es unzweifelhaft "schwache" Werke darunter, die wie ein matter zweiter oder gar dritter Aufguß seiner Meisterwerke wirken, und dieselben überraschenden Handlungswendungen, die in den großen Romanen in den Bann ziehen, wirken auf einmal wie billige Taschenspielertricks; das sei konzediert, ändert aber nichts an der Großartigkeit der Meisterwerke! Welche Romane man dazuzählen kann, darüber mag im Einzelfall Uneinigkeit herrschen, aber die folgenden Romane sind wohl unbestritten darunter:
- Abenteuer eines jungen Herrn in Polen. Berlin: Kiepenheuer 1931
- Die Standarte. Berlin: S. Fischer 1934
- Der Baron Bagge. Erzählung. Berlin: S. Fischer 1936
- Der Mann im Hut. Berlin: S. Fischer 1937
- Mars im Widder. Berlin: S. Fischer 1941 (Erstauflage; verboten)
- Beide Sizilien. Berlin: Suhrkamp 1942
- Der Graf von Saint Germain. Zürich: Morgarten 1948
- Pilatus. Ein Komplex. Wien-Hamburg: Zsolnay 1967
Wohl endgültig untergegangen dürfte hingegen das dramatische Schaffen Lernet-Holenias sein, obwohl gerade dieses seinen Ruhm am frühesten (und durch den Kleist-Preis prämiert) begründete, doch nicht bloß dem Mimen, auch dem Bühnenautor flicht die Nachwelt selten Kränze ...
Das in viele kleine Bände verstreute lyrische Schaffen, dessen Anfänge
und erste Höhepunkte einen Rilke begeisterten, wurde in einem
umfangreichen Band von Roman Rocek in verdienstvoller Weise vereint
herausgegeben, und erschien bei Zsolnay 1989.
Vierzig Jahre nach seinem Tode gilt es, einen großen Vergessenen wiederzuentdecken. Einige seiner Romane sind noch erhältlich (besonders die obgenannten), jedenfalls aber antiquarisch ohne Problem zu finden. Sie nicht zu suchen, bringt einen um unzählige Stunden angeregtester Lesefreude, die viele der heute hochgejubelten "Erfolgsautoren" vielleicht versprechen, aber nicht halten. Und ist das Leben nicht zu kurz, um es in der Lektüre unbefriedigender Romane zu verschwenden ...?
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