Sonntag, 4. Oktober 2015

Keine halbe Sache

Wenn es etwas gibt, was man ihm mit Sicherheit nicht vorwerfen konnte, so das: »halbe Sachen« hat er nie gemacht! Immer war er mit Herz und Seele bei dem, was er tat. 

Die Rede ist vom deutschen Schriftsteller Max Halbe, der heute vor 150 Jahren, also am 4. Oktober 1865, in Güttland, einer Ortschaft in der Nähe von Danzig, geboren wurde.
»Ich entstamme einem alten Bauerngeschlecht nieder-sächsischer Herkunft, das wahrscheinlich schon zur Ordenszeit im Weichselgau Wurzeln gefaßt, urkundlich aber erst seit 1700 dort sich nachweisen läßt. Dies rührt daher, daß zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts am damaligen Wohnsitz unserer Familie ein Kirchenbrand stattgefunden hat, dem die sämtlichen Kirchenbücher und sonstigen pfarramtlichen Aufzeichnungen zum Opfer fielen. Für die weiter zurückliegende Zeit sind also keine schriftlichen Belege vorhanden. Es hat sich aber in unserer durch Langlebigkeit gekennzeichneten Familie eine mündliche Überlieferung erhalten, die unseren Ursprung aus Niedersachsen, vermutlich aus Westfalen, herleitet. Gewisse gemeinsame Charakterzüge unserer Familie — Hartnäckigkeit, Eigensinn, Eigenbrötelei und Absonderungsdrang, Standhaftigkeit, Bauerstolz, Tatsachensinn und gleichzeitiger Hang zum Mystizismus — weisen ja auch deutlich nach dem Lande der roten Erde hin. Immermanns „Münchhausen“, die Schilderung des Erbschulzen und seines ganzen Lebenskreises im „Oberhof“ — ich las es mit zwölf Jahren und es war der erste Roman in meinem Leben — ist mir sicher nicht nur durch seine literarischen Vorzüge so unauslöschlich haften geblieben. […]

Seit der Mittagshöhe des Mittelalters, seit 1200 etwa, bestand eine lebendige Menschenbrücke vom westlichen Niederdeutschland über das neubesiedelte Elb- und Odergebiet hinweg nach dem Preußenland, dem Weichselgau. „Wir wellen gen Ostland reiten!“ Der deutsche Ritterorden war es, der zuerst diesen Fanfarenruf durch das Deutschland der späten Stauferzeit erklingen ließ. […]

Nicht umsonst hat ein historischer Seher wie Treitschke die germanische Rückwanderung nach Osten und die Besitzergreifung, Wiederbesiedlung der weiten, fruchtbaren Lande zwischen Weichsel und Düna die größte Tat nicht nur unseres Mittelalters, sondern unserer ganzen Geschichte genannt. Wir sind schon damals unter soviel primitiveren Verhältnissen ein Volk ohne Raum gewesen. Die Eröffnung des Weges nach Osten war gleichbedeutend mit dem Öffnen eines Ventils, das die gefahrdrohenden Spannungen ausglich und das ohnehin zerklüftete, zerrüttete Reich nach dem Untergang der Staufer vor schweren bäuerlichen und kleinbürgerlichen Erschütterungen bewahrte. Sie sind dann um zwei- bis dreihundert Jahre später zum Ausbruch gekommen, als das inzwischen emporgestiegene Polentum sich wie eine breite Palisade über die Straße nach dem Osten legte und sie versperrte.

Es war also eine Kolonialwelt, die sich unter den Fittichen des deutschen Ritterordens an der Weichsel auftat, Städte gründete, Dörfer anlegte, Straßen baute, Deiche errichtete, Gräben zog, Wälder rodete, Ackerboden schuf. Und wie jede Kolonialwelt war es eine . j u n g e . Welt. Eine Welt von jungen . M ä n n e r n , denen es an Frauen mangelte […]

Jedoch der Tag kam, wenn Gott es wollte, wo aus dem jungen Glücksritter und Abenteurer ein standfester Siedler und wohlgegründeter Hufenbauer, wohl gar ein Erbschulze wurde. Da war dann die Frau vonnöten. Wie hätte man ohne sie wirtschaften können! Manch einer wird sich seine Base, seine zurückgelassene Braut nachkommen haben lassen. Die anderen, weitaus die Mehrzahl, werden genommen haben, was sie fanden und was sich mehr oder minder willig bot: eingeborene Mädchen, die Töchter des Landes, das man erobert, des Volkes, das man unterworfen hatten. Als Mägde, als Leibeigene nahm man sie auf den Hof. Über Jahr und Tag ward aus der Magd die Frau. Preußisches, litauisches, kaschubisches, masurisches, bald genug und in zunehmendem Maße auch polnisches Blut mischte sich mit dem Blut der deutschen Herren- und Erobererrasse, der westfälischen, friesischen, fränkischen und rheinischen Jungens. In wenigen Menschenaltern war das weiträumige Ordensland mit einer vielfach nicht mehr ganz blutreinen, aber vielleicht um so dauerhafteren Kolonistenschicht von dennoch ausgeprägtem deutschen Charakter überzogen.«

Kann man, ja: darf man so schreiben, wenn man in der geschichtslosen Geisteswüstenei eines »Der Islam gehört zu Deutschland«- und »Refugees Welcome«-Schlandes Anerkennung finden will? Und dann erst der Titel dieser Lebenserinnerungen! Also: »Scholle und Schicksal« — nun, das geht mal gar nicht …

Dennoch: die so beginnenden Kindheits- und Jugenderinnerungen (ihr zweiter Band, »Jahrhundert-wende«, führt bis in die Zeit von 1914 weiter) eines im Zeitpunkt der Fertigstellung siebzigjährigen Mannes zählen zu den ganz großen autobiographischen »Würfen« der deutschen Literaturgeschichte. Sicher auch, weil sie
wichtige Quellenwerke zur Geschichte der deutschen Literatur, besonders des Naturalismus, sind …
… wie Wikipedia vermerkt. Doch sie sind weit mehr als ein bloßes »Quellenwerk« für angehende Germanisten! In unprätentiösen Worten gestalten sie das in Irrungen sich forttastende Leben eines begabten, von Selbstzweifeln und überspannten Flausen hin- und hergerissenen, jungen Mannes — und doch ist es kein neurasthenisch-larmoyant selbstbespiegelndes Psychogramm, sondern die schwerblütig-solide, selbstkritische Bestandsaufnahme eines Reifungsprozesses, in dem die vom Autor als gemeinsame Charakterzüge der Familie angeführten Eigenschaften — »Hartnäckigkeit, Eigensinn, Eigenbrötelei und Absonderungsdrang, Standhaftigkeit, Bauerstolz, Tatsachensinn und gleichzeitiger Hang zum Mystizismus« — lebendig und vor allem glaubhaft gestaltet werden.

Halbe ist für die Literaturkenner (leider! das konstatiert man schon bei kurzem Durchblättern der vierzehnbändigen Gesamtausgabe seiner Werke, die auf billigem Holzschliffpapier und in Pappeinband 1940 bis 1945 im Bergland-Verlag erschien, und uns im Namenregister mit durchaus entbehrlichen, damals aber geforderten Hinweisen über den Rassestatus der Genannten versorgt, denn Halbe schreibt in seiner Biographie nämlich völlig ungeniert über jede Menge damals Verfemter!) eigentlich nur als Autor seines großen (und letztlich einzigen) Erfolgsstückes »Jugend« ein wenig bekannt geblieben, und gilt literarisch gemeinhin für eine Art von »kleinerem Bruder« von Gerhart Hauptmann in dessen naturalistischer Phase. Kaum bekanntgeworden ist hingegen Halbes erzählerisches Werk, was überaus bedauerlich ist, denn er verfaßte, wie Wikipedia richtig vermerkt
… mehrere Romane, wie Die Tat des Dietrich Stobäus oder Generalkonsul Stenzel und sein gefährliches Ich, in denen er sich besonders auf die Ausgestaltung der Gedankengänge seiner Figuren konzentrierte.

Halbe verließ Deutschland 1933 nicht. Daß er ein bekennender Nazi gewesen wäre, ist angesichts dieser in der Nazizeit publizierten beiden Bände Lebenserinnerungen eigentlich undenkbar: wie leicht hätte er die Erwähnung des einen oder anderen »Juden« oder »Halbjuden« unterlassen, oder doch durch ein paar regimekonforme Nebenbemerkungen ihre Bedeutung für seinen Lebensweg relativieren können — und tat es nicht. Die Nazis hofierten ihn trotz seiner merklichen Zurückhaltung, war er doch einer der nicht allzu vielen weithin »anerkannten« Autoren, gegen den sie aufgrund seiner konservativ-patriotischen Eisntellung und Volkstümlichkeit einerseits aus NS-Sicht kaum Einwände zu haben brauchten, der sich jedoch andererseits längst von aller Politik fernhielt, ihnen also auch als »innerer Emigrant« kaum gefährlich werden konnte.

All das hat ihm nach 1945 sehr geschadet. Anders als Gerhart Hauptmann, der als Autor des sozialen Dramas schlechthin, der »Weber«, in der DDR weiterhin seinen Anwert hatte (und deshalb in der linksgewendeten westdeutschen Literaturkritik und -forschung trotz manchen Kompromisses in der Nazi-Zeit auch so irgendwie passieren durfte), fehlte Max Halbe diese DDR-Protektion, und so wurde er spätestens seit der Übernahme der Deutungshoheit über deutsche Geschichte (»Weichselgau« — also wirklich!) und Kultur durch die 68er-Generation ein Outcast, den man höchstens mit Verachtung strafte, viel öfter noch mit lückenloser damnatio memoriæ. Da half auch seine Freundschaft zu dem von unseren Deutungs»eliten« ungleich geschätzteren Wedekind (dessen Grabrede er gehalten hatte) nichts …
Als ich dieses niederzuschreiben begann, war ich fünfundsechzig Jahre Gast auf Erden. Das ist eine lange Reise, wenn man sie erst vor sich hat. Vom Ende aus gesehen, erscheint sie als Ganzes kurz. Vertiefen wir uns aber dann in die Betrachtung zurückgelegter Einzelstrecken, so schwindelt es uns bald vor der unübersehbaren Bilderfülle und Gestaltenreihe, vor all den zahllosen, einst lebendig gewesenen, für unverlierbar, unentrinnbar gehaltenen und dennoch längst gestorbenen Gefühlen, Gedanken, Hoffnungen, Plänen Leidenschaften, Sehnsüchten, Träumen, Wünschen, Bedürfnissen, Irrtümern, Verfehlungen, Enttäuschungen, Überstürzungen, Verblendungen Seligkeiten, Verzweiflungen — vor diesem nicht abreißen wollenden Filmband mit seinen Hunderten, Tausenden von scheinbar gleichen Szenen, Szenchen, Situationen […]

Ich sage, es schwindelt uns auf unserem Beobachtungsposten der erreichten Altershöhe, mag dies nun ein majestätischer Gipfel sein mit Fernsicht über viele andere Gipfel, über Eis und Schnee, über Weiten und Länder und Meere, oder mag es sich nur um eine bescheidene Ruhebank auf einem Gartenhügel handeln. Es schwindelt uns vor unserer eigenen unfaßbaren, undefinierbaren Vielgestaltigkeit und Unübersehbarkeit, vor der Unendlichkeit unseres Mikrokosmos, dessen Dauer doch nur siebzig Jahre und, wenn es hoch kommt, achtzig Jahre beträgt; und das Gefühl der absoluten Traumhaftigkeit unseres eigenen und alles Daseins übermannt uns ganz.
Nein, die »bescheidene Ruhebank auf dem Gartenhügel« waren die vom Kriegsgetöse und dem erkennbaren Untergang, der erkennbaren Totalvernichtung Deutschlands umschatteten letzten Tage von Max Halbe sicher nicht: aber mit dem »wenn es hoch kommt, achtzig Jahre« hat der — knapp sein achtzigstes Lebensjahr erreichende — Schriftsteller Recht behalten. Er starb am 30. November 1944 auf seinem Landgut bei Neuötting. Da stand die Rote Armee im Zusammenbruch der Ostfront schon an der Grenze des Reiches …

Halbe schrieb fast keine Lyrik — in den vierzehn dicken Bänden seiner »Gesammelten Werke« findet sie auf wenig mehr als dreißig Seiten Platz. Dennoch sei jenes Gedicht, das er an die Spitze dieser kleinen Sammlung stellte, hier zum Abschluß zitiert. Nein, es ist wohl ein ordentliches, lesbares, aber kein wirklich »geniales« Gedicht — und doch eines, das uns viel über Max Halbe, sein Leben und Streben zu sagen weiß:
Dir ist bestimmt, zu wandern auf Erden.
Der andern ihr Glück soll deines nicht werden.
Sollst suchen und irren in unsteter Hast,
An reichster Tafel friedloser Gast.

Und wie du auch jagst von Westen nach Osten,
Den Jammer der Welt, du sollst ihn durchkosten,
Und wo du nur irrst in Nord oder Süd,
Dein Kräutlein, dein Kräutlein nirgendwo blüht.

Zu suchen bist du verdammt auf Erden.
Der andern ihr Glück soll deines nicht werden.
Der andern ihr Frieden, dir leiht er nicht Ruh’.
Ein flüchtiger Wandrer, ein Kämpfer bist du.

Der majestätische Gipfel seines Lebens ist seit Jahrzehnten durch Nebel verhüllt. Ob sie sich einst einmal lichten werden …?

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