Samstag, 20. September 2014

Schottland bleibt

Jetzt ist es also amtlich: Schottland bleibt englisch. Bitte jetzt keine klugen Belehrungen darüber, daß es nicht »englisch« bleibe, sondern »britisch« — das sind bloß Augenauswischereien angesichts der Bevölkerungszahlen!

Trotz aller spannungssteigernder Medienmeldungen, daß ein »Kopf-an-Kopf-Rennen« zu erwarten stehe, daß die Unabhängigkeitsbefürworter knapp die Führung übernommen hätten, und was an dergleichen Schlagzeilengeklingel sonst noch wohlfeil ist — es war wohl von vorneherein reichlich unwahrscheinlich, daß die Abstimmung anders ausgehen würde, als sie letztlich ausging. Warum? Nun — hätte wirklich die Gefahr bestanden, daß sich Schottland unabhängig macht, dann hätte ein alter Fuchs wie Warren Buffet nicht auf einen Sieg des »No«-Lagers gewettet, dann wäre die Sprachregelung in der Systempresse längst von harmlosen »Unabhängigkeitsbefürwortern« zumindest auf »Separatisten«, wahrscheinlich »recht(populistisch)e Nationalisten«, und bei Bedarf »rechtsextreme Terroristen« geändert worden.

Dennoch: das Ergebnis läßt eine gewisse Spannung für die Zukunft zurück. Denn wenn jetzt nach hoch-und-heiligen Versprechen einer weitgehenden Autonomie für Schottland nichts Substantielles geliefert wird, sondern London die Sache irgendwie aussitzen will, oder eine nächste (recht wahrscheinlich: Labour-)Regierung nach dem Motto »Was kümmert mich Camerons dummes Geschwätz von gestern« die Sache schubladisiert, dann kann sich Schottland durchaus zu einem zweiten Nordirland entwickeln (einen ersten Vorgeschmack sah man gestern in Glasgows Straßen). Freilich mit dem unschönen Unterschied einer viermal so großen Bevölkerung ...

Andererseits: wenn eine weitestgehende Autonomie mit Steuerhoheit und allem Pi-pa-po tatsächlich kommt, dann werden die Waliser nicht ruhen, bis sie nicht dasselbe erzielt haben. Und spätestens dann wird die Föderalisierung Großbritanniens zum Problem: denn dann müßte sich das Parlament zu Westminster selbst entmachten, und wohl auch ein Königreich »England« (oder, wie im frühen Mittelalter, mehrere Teilkönigreiche à la Menevia, Northumbria, Kent, Wessex etc.) mit eigenen Parlamenten und Regierungen etablieren. Doch spätestens dann ist eine geschriebene Verfassung für ganz Großbritannien unumgänglich, soll das Ganze nicht in permanenten Bürgerkrieg ausarten — doch eine schriftliche Verfassung, die die Parlamentswillkür behindert: nun, das wäre in der Tat eine rechtliche Revolution in einem Land, dessen Parlamentswillkür nur durch ungeschriebenes Gewohnheitsrecht einigermaßen in Zaum gehalten wird (oder, besser: wurde)!

Blicken wir außerhalb Großbritanniens: was hat der Fehlschlag einer Abspaltung Schottlands geändert? Nun, auch hier eine Menge, wenn man tiefer blickt. Oberflächlich betrachtet haben jetzt natürlich die Zentralisten aller Sorten Oberwasser. Aber das kann sich schnell ändern. Denn ein zentralistisch-chauvinistischer Hohlkopf wie der spanische Premier sieht sich jetzt sicherlich darin bestärkt, den Kataloniern das gewünschte Referendum gewaltsam zu verbieten — und könnte sich damit schnurstracks ein zweites Baskenland einhandeln. Das Regionalparlament zu Barcelona zeigte sich jedenfalls unbeeindruckt vom Votum der Schotten, und setzte den Referendumstermin trotzdem an. Mit überwältigender Stimmenmehrheit.

Was kann Rajoy in dieser Situation machen? Eigentlich nur verlieren. Sicherlich, er kann Kataloniens Premier Maz wegen Hochverrats ins Gefängnis werfen lassen, mit Militärkräften einmarschieren, Polizeiposten aus Madrid nach Barcelona verlegen und dergleichen mehr. Und die EU-Verbände zum eingreifen rufen. Aber das wäre die Bankrotterklärung der Staatlichkeit Spaniens: ein Land, das die EUGENDFOR braucht, um seine Untertanen in Schach zu halten, steht auf ähnlich tönernen Beinen wie das seinerzeitige DDR-Regime im Jahr 1953. Auch andere Zentralstaaten (Frankreich, Italien) oder failed states wie Belgien, die sich jetzt in Versuchung fühlen könnten, die scheinbare Gunst der Stunde zu nutzen, könnten sich fatal verrechnen.

Nicht zuletzt aber könnten unsere Eurokraten in Brüssel nur zu bald erkennen, daß der Wunsch nach einem Schotten-Votum nur das Symptom war, nicht jedoch die tödliche Krankheit, die ihr feingesponnenes Herrschaftssystem der Gummizelle längst befallen hat. In Zeiten globalisierter Wirtschaftsbeziehungen und jederzeit weltweit zugänglicher Informationen steigt offenbar die Sehnsucht nach überschaubaren Einheiten, nach Regionalität. Die (und man vergesse das nicht: eigentlich erst im 19. Jahrhundert so recht entstandenen!) Nationalstaaten können sich dann ebenso als aussterbende Dinosaurier entpuppen, wie die von wegen Unfähigkeit nach Brüssel abgeschobenen Politiks kreierte bürokratisch-supranationale Mißgeburt »EU«.

Das Schotten-Votum hat für keinen Knalleffekt gesorgt, das stimmt. Die Chancen auf eine Zersetzung der bestehenden »Ordnungen« sind jedoch durchaus intakt.

3 Kommentare:

  1. Daß das mit den Schotten so sicher war, möchte ich doch stark bezweifeln.

    Aber gut: Tatsächlich wurde hier eine Tür zwar noch nicht geöffnet, aber doch aufgeschlossen. Und das ist entscheidend.

    Europa innerhalb der Gummizelle EU wird sich neu sortieren (können/dürfen/müssen). Es ist darin keine Bedrohung zu sehen, sondern eine Chance seiner Regeneration.

    Die deutschen Lande in ihrer Gänze brachten z.B. gerade in ihrer Kleinstaaterei eine Fülle von Kulturgütern hervor, um die uns andere Zentralisten nur beneiden konnten.

    Auch die demographische Entwicklung verlangt nach Stärkung und Festigung der überschaubaren Regionen. Zur Selbstbehauptung derer, die sonst untergehen werden.

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  2. @quer:

    Daß das mit den Schotten so sicher war, möchte ich doch stark bezweifeln.

    Sehen sie — ich hegte auch lange eine »hope against hope«, daß das Yes-Lager siegen könnte. Aber als ich die steigenden Börsen am Donnsertag sah, nachdem ich schon ein paar Tage von Buffet gelesen hatte, war für mich klar: wenn nicht ein Wunder passiert, dann geht die Abstimmung schief.

    Wunder geschehen selten. So auch hier. ImÜbrigen stimme ich Ihrer einschätzung durchaus bei.

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  3. Viele Völkerschaften scheinen sich tendenziell ohnehin in eher kleineren Verbänden zu organisieren, die bei Bedarf größere Zusammenschlüsse bilden. Bei den Germanen und bei einem ihrer Diadochenvölker, den Deutschen, scheint das eigentlich die meiste Zeit recht ausgeprägt gewesen zu sein.

    Die Idee, dass ein Volk möglichst in einem einzigen Staatsgebilde vereint sein muss, die auch irgendwo dazu (ver-)führt, Volk und Staat als wechselseitig gegeneinander austauschbar anzusehen, ist demgegenüber wirklich eine vglw. späte Erscheinung und scheint aus den seinerzeitigen historischen Umständen erwachsen zu sein.

    Manchmal kann so etwas zwar durchaus objektiv zweckmäßig sein, manchmal auch als subjektiv als zweckmäßig angesehen werden, im Moment dürfte aber subjektiv vielfach ein anderes Befinden vorherrschen, das sich je nach Volk, »Kultur« und Art der polit. Organisation anders auswirkt. Ob dabei objektiv gesehen das, was einige abfällig als »Kleinstaaterei« betiteln, schlechter als große, obendrein zentralistische Staaten ist, muss dabei erst gezeigt werden. Die Schweiz, Norwegen, Neuseeland, Singapur et al., sind Beispiele dafür, wie und dass es funktionieren kann.

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