In einer seiner Dialoggeschichten mit dem doppeldeutigen Titel "Die Umkehr" (in Ich brauch dich, 1976) zeigt er, wie leicht das Schuldgefühl zum Schweigen gebracht werden kann, besonders wenn ein Mitwisser, hier die Frau der Hauptfigur, dabei hilft. Sie weiß es zu verhindern, daß Theo sich wegen einer lange zurückliegenden Unrechtstat den Behörden stellt. Schnurre gelingt hier eine Aktualisierung des Schuldthemas, indem er es mit dem Thema der Ausländerfeindlichkeit verbindet. In dem Roman Ein Unglücksfall (1981) gelangt der Glasermeister Goschnik zu der Einsicht, daß er mit der Verglasung der Synagoge seine Schuld zwar sühnen, aber nichts wiedergutmachen kann.
Karl Krolow spricht in seiner "Laudatio auf Wolfdietrich Schnurre" anläßlich der Verleihung des Büchner-Preises 1983 davon, daß es in Schnurres Leben "Herausforderungen [gab], die Tod und Krankheit, Leiden und Sorgen und langsame Genesung hießen" und er ein insgesamt "schwierig zu bewältigende[s] Leben" hatte.
Nach der Teilung Berlins am 13. August 1961 setzte Schnurre, einem modernen Don Quichotte gleich, alle Hebel in Bewegung, um seine Zeitgenossen im In- und Ausland zu Stellungnahmen gegen diese Unrechtsmaßnahme zu veranlassen. Von seinem Vater, seinen Freunden und der Osthälfte Berlins getrennt, reagierte er schonungslos emotional, so daß es im Juni 1964 zum völligen körperlichen Zusammenbruch und zur Polyneuritis kam. Man kann nur erahnen, was es für Schnurre als Schriftsteller bedeutet haben mag, als Folge der Totallähmung ein Jahr lang nicht schreiben zu können, und man bewundert seinen "zähe[n] Lebensmut", die schwere Krankheit zu überstehen und wieder zu lernen, einen Stift zu halten.
Daß er das Lachen trotz aller Anfechtungen nicht verlernte, mag man als Zweckoptimimus bezeichnen - eine bewunderungswürdige Haltung war dies allemal. Nur zu gerne erinnere ich mich an eine öffentliche Lesung Schnurres im August 1987 in Berlin, als er, von den Folgen der Polyneuritis gezeichnet, leicht schlurfend und gebeugt auf das Podium trat. Der Kontrast zwischen seiner äußeren Erscheinung - hager, gebeugt, zerbrechlich - und seiner kraftvollen, fast jugendlichen Stimme beim Lesen konnte größer kaum sein. Man merkte, welch großen Spaß ihm die Veranstaltung machte, wie sehr er es genoß, aus seiner Dichterklause herauszukommen und den sprichwörtlichen Funken seiner dichterischen Phantasie im Publikum zünden zu sehen. Sein fabulierender Charme war ungebrochen, seine Lebenserfahrung flößte Respekt ein, und die Zuhörer, auch viele junge Menschen, hingen an seinen lachenden Lippen, wenn er von seiner Liebe zum Leben sprach.
Sonntag, 22. Juni 2014
Wolfdietrich Schnurre
1 Kommentar:
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Wem das nicht frei genug ist, dem sei dringend geraten, seinen eigenen Blog zu eröffnen.
Gut getroffen.
AntwortenLöschenUnd Gratulation zum Fund "Der Schattenfotograf". Ein außergewöhnliches Buch, das nicht vergessen werden wird.
Aber Erinnerung tut not.
Danke für die Erinnerung !