Sonntag, 11. Mai 2014

Wer kennt Sigismund Ritter von Neukomm?

Selbst unter Musikliebhabern wird dieser Name wohl meist nur verlegenes Achselzucken auslösen. Außer in Brasilien, vielleicht — denn dort ehrt man sein Andenken als das eines der Gründerväter der brasilianischen »Musikszene«. Nur wer interessiert sich schon in Brasilien für klassische Musik, statt für Samba, Karneval und Fußball ...?


Nun, wenn man dieses überaus originelle Klavierkonzert, dem man sein Entstehungsjahr 1804 (also vor 210 Jahren) wohl nicht so leicht anhören mag, dann weiß man, warum man diesen so vielseitigen Komponisten und Diplomaten Sigismund Ritter von Neukomm im frühen 19. Jahrhundert durchaus in einem Atemzug mit den unbestritten ganz Großen der Musik jener Zeit, sogar mit Beethoven, zu nennen wußte.

Irgendwie amüsant, die Fassungslosigkeit zu bemerken, mit der das spätere 19. Jahrhundert, als der Canon der musikalischen Meisterschaft sowohl hinsichtlich der etablierten »Klassiker«, wie auch der »Romantiker« säuberlich festgelegt war, diesem Komponisten begegnete — die sich sehr treffend in dem Artikel über Sigismund von Neukomm in der »Allgemeinen Deutschen Biographie« (1886) findet:
Sigismund Ritter von N., eine der merkwürdigsten Erscheinungen in der Künstlerwelt. Ohne je die Aufmerksamkeit der Menge durch virtuose Leistungen auf sich gelenkt zu haben, verstand er es, durch ein äußeres imponirendes Wesen und durch seine Compositionen, die Jedem etwas gaben, es also eigentlich Jedem recht machten: dem Publicum durch Effecte, dem Kunstkenner durch eine geschickte Arbeit, sich eine in ihrer Art einzige Stellung in der Welt zu erwerben. Wären uns nicht Privaturtheile aus Briefen und Tagebüchern damaliger Zeit aufbewahrt, so könnten wir uns diese Erscheinung gar nicht erklären, denn die Urtheile der damaligen Presse, die Biographien in den Tonkünstler-Lexika und im Vergleich damit die Compositionen selbst, würden uns in ein unentwirrbares Knäuel verwickeln. N. erblickte am 10. Juli 1778 zu Salzburg das Licht der Welt, jener Stadt, der 22 Jahre früher das unsterbliche Musikgenie – Mozart – entsprossen war. Sein Vater, ein wissenschaftlich gebildeter Mann und Lehrer an der Central-Normalschule daselbst, ließ sich die Erziehung seines Sohnes sehr angelegen sein, und da er sehr bald die musikalischen Anlagen desselben erkannte, so sorgte er auch darin für gute Lehrer. Der Organist Weißauer und der Bruder Joseph Haydn’s, Michael, leiteten seine Musikstudien, während er sich auf der Hochschule eine akademische allgemeine Bildung erwarb, besonders Philosophie und Mathematik betrieb. In musikalisch technischer Hinsicht scheint ihm der Vater ganz freien Willen gelassen zu haben, und so wird berichtet, daß er fast auf jedem Instrumente sich einige Fertigkeit erworben hatte und in den Salzburger Kirchenorchestern eine gesuchte Persönlichkeit war, da er von der Orgel bis zur Flöte überall helfend eintreten konnte. Dies ist wohl auch der Grund, weshalb er auf keinem Instrumente jene technische Vollendung erreicht hat, die selbst unseren größten neueren Meistern fördernd zur Einführung ins Leben war. Im J. 1798 verließ er seine Vaterstadt und wandte sich nach Wien. Durch die Empfehlung Michael Haydn’s an seinen berühmten Bruder in Wien fand N. dort eine sehr freundliche Aufnahme und Haydn gewann ihn so lieb, daß er mehr als Sohn, denn als Schüler im Hause verkehrte. In diesem Verhältniß finden wir ihn bis zum Jahre 1809, und nur im J. 1803 berichtet die Allgemeine musikalische Zeitung in Leipzig, daß er in seiner Vaterstadt Salzburg ein Concert gegeben habe. 31 Jahre alt, tritt er zum ersten Male öffentlich als Componist auf und erlangt damit ein so großes Ansehen, daß sein Name wie ein elektrischer Funke durch Europa fliegt und sich die wissenschaftlichen Akademien beeifern, ihm ihre Anerkennung öffentlich zu erkennen zu geben, so Stockholm und Petersburg. Wenn man erwägt, daß sich damals Beethoven auf dem Gipfel seines Schaffens befand, und dennoch nur die Anerkennung weniger Kenner erreichen konnte, während diesem musikalischen Speculanten es gelingt, die Welt mit einem Wurfe zu erobern, so wirft dies ein klägliches Licht auf die Urtheilskraft der Menge, und es bleibt nur der eine Trost, daß die Zeit dennoch das Urtheil in richtige Bahnen lenkt und dann allerdings den obersten Richter bildet. (Hier weiterlesen)
Dieses Victorianisch-Wilhelminisch-Francisco-Josephinische Zeitalter fühlte sich von einem Komponisten, der so ganz nebenbei auch noch Diplomat in der Entourage des Fürsten Talleyrand, Weltreisender, Kapellmeister, Opern- und Orchester-Impressario in Stockholm, St. Petersburg, Moskau, Paris und Rio des Janeiro, Spion und was weiß ich sonst noch alles war, offenkundig heillos überfordert!

Nach über einem Jahrhundert der Vergessenheit wird sein Werk in den letzten Jahren wiederentdeckt. Viele seiner angeblich rund 1300 (!) Kompositionen sind mittlerweile wohl endgültig verschollen. Und wenn die »Allgemeine Deutsche Biographie« bereits im Jahr 1886 vermerkt:
Man rechnet ihm über tausend Compositionen nach, darunter Opern, Oratorien, Messen, Cantaten, Psalmen, andere Kirchengesänge, Sinfonien, Kammermusik aller Gattung bis herab zum kleinen Clavierstückchen. Heute hält es bereits schwer, nur ein und das andere Stück von ihm in großen Bibliotheken aufzufinden!
... dann ist ihr Triumph, daß so ein störender Quertreiber endlich der verdienten damnatio memoriæ anheimgefallen ist, unüberhörbar. So schwankt, mit Schiller zu sprechen, sein Charakterbild, von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, in der Geschichte — sein Triumph zu Lebzeiten, den er mit dem Triumph seiner Schmäher nach dem Tod vertauschen mußte.

Wann wird man je versteh'n ...

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