Samstag, 1. März 2014

»Muß die Kirche nicht ebenso eine Kirche für die Reichen sein wie für die Armen?« (zugleich Mises-Lektüre III)

... fragt sich Herr Alipius, der Klosterneuburger Chor- und Floridsdorfer Pfarrherr, in einem Artikel:
Schon der Gott der Psalmen entpuppt sich in vielen Fällen als ein Gott der Armen. Christus selbst steht auf der Seite der Besitzlosen, Schwachen und Ohnmächtigen und warnt vor den Gefahren des Reichtums. Wenn wir nun auf die schauen, "die im Leben schon alles haben", dann sehen wir immer auch Menschen, die in die Irre gehen können: "Wenn der Reichtum auch wächst, so verliert doch nicht euer Herz an ihn".

Ist die Kirche hier nicht ganz besonders gefordert und gefragt, nach vorne zu preschen und die Gefährdeten vom Irrweg abzuhalten oder abzubringen? Muß die Kirche nicht an vorderster Front stehen, wenn es darum geht, grade den Reichen klarzumachen, daß sie von all ihrem irdischen Besitz nichts in den Tod mit hineinnehmen können und daß nach dem Tod ein Reich auf sie wartet, für welches sie hier auf Erden bereits Schätze sammeln können?

Weder Armut noch Reichtum sind ein Freifahrtschein in den Himmel oder in die Hölle.

(Hier weiterlesen)
Bedenkenswerte Worte, die freilich der Ergänzung um ebenso bedenkenwerte Worte aus dem Munde Ludwig von Mises' bedürfen, dessen Werk »Gemeinwirtschaft« schon in den letzten Tagen Gegenstand umfänglicher Zitation war:
Das Urchristentum war nicht asketisch. In freudiger Lebensbejahung drängt es eher bewußt und deutlich die asketischen Ideen, von denen zahlreiche zeitgenössische Sekten erfüllt waren – als Asket lebte auch der Täufer – in den Hintergrund. Der asketische Zug wurde in das Christentum erst im dritten und vierten Jahrhundert hineingetragen; aus jener Zeit stammt die asketische Umdeutung und Umformung der evangelischen Lehre. Der Christus des Evangeliums genießt im Kreise seiner Jünger das Leben, erquickt sich an Speise und Trank und feiert Feste des Volkes mit; er ist gleich weit entfernt von Ausschweifung und Prasserei wie von Weltflucht und Askese. Nur seine Auffassung des Verhältnisses der Geschlechter mutet uns asketisch an. Aber auch sie findet ihre Erklärung wie alle anderen praktischen Lehren des Evangeliums – und andere als praktische Lebensregeln bringt das Evangelium nicht – aus der Grundauffassung, von der das ganze Auftreten Jesu getragen wird, aus der Messiasidee.
„Die Zeit ist erfüllet und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubet an das Evangelium!“, das sind die Worte, mit denen das Evangelium des Marcus den Erlöser auftreten läßt. Jesus hält sich für den Verkünder des nahenden Gottesreiches, jenes Reiches, das nach der Weissagung der Propheten die Erlösung von jeder irdischen Unzulänglichkeit, also auch von allen wirtschaftlichen Sorgen bringen soll. Die ihm nachfolgen, haben nichts anderes zu tun, als sich auf diesen Tag vorzubereiten. Jetzt heißt es nicht mehr, sich um irdische Dinge Sorge machen, denn jetzt ist in Erwartung des Reiches Wichtigeres zu besorgen. Jesus bringt keine Lebensregeln für irdisches Tun und Streben, sein Reich ist nicht von dieser Welt; was er seinen Anhängern an Verhaltungs-maßregeln gibt, hat nur Gültigkeit für die kurze Spanne Zeit, die noch in Erwartung der großen kommenden Dinge zu verleben ist. Im Reich Gottes wird es keine wirtschaftlichen Sorgen mehr geben. Dort werden die Frommen am Tische des Herrn essen und trinken. Für jenes Reich wären daher alle wirtschaftspolitischen Verfügungen sinnlos. Die Anordnungen, die Jesus trifft, sind nur als Übergangsbestimmungen aufzufassen.
So nur kann man es verstehen, daß Jesus in der Bergpredigt den Seinen befiehlt, nicht Sorge zu tragen um Speise, Trank und Kleidung, daß er sie ermahnt, nicht zu säen, nicht zu ernten, nicht in die Scheunen zu sammeln, nicht zu arbeiten und nicht zu spinnen. Nur so vermag man seinen und seiner ersten Jünger „Kommunismus“ zu begreifen. Dieser „Kommunismus“ ist kein Sozialismus, kein Produzieren mit Produktionsmitteln, die der Gemeinschaft gehören. Er ist nichts als eine Verteilung von Konsumgütern unter die Angehörigen der Gemeinde, „nach dem Bedürfnis, das ein jeder hatte“. Es ist ein Kommunismus der Genußgüter, nicht der Produktionsmittel; es ist eine Gemeinschaft des Verzehrens, nicht des Erzeugens. Erzeugt, gearbeitet und gesammelt wird von den Urchristen überhaupt nichts. Sie leben davon, daß die Neubekehrten ihr Hab und Gut veräußern und den Erlös mit den Brüdern und Schwestern teilen. Solche Zustände sind auf die Dauer unhaltbar. Sie können nur als vorläufige Ordnung der Dinge angesehen werden; und so war es auch. Der Jünger Christi lebt in Erwartung des Heils, das jeden Tag kommen muß.
Die urchristliche Grundidee von dem unmittelbaren Bevorstehen der Erfüllung wandelt sich dann allmählich in jene Vorstellung von dem jüngsten Gericht um, die der Lehre aller jener kirchlichen Richtungen zugrunde liegt, die es zu länger währendem Bestand gebracht haben. Hand in Hand mit diesem Wandel mußten auch die Lebensregeln des Christentums eine vollständige Umformung erfahren. Sie konnten nicht länger auf der Erwartung des unmittelbaren Eintretens des Gottesreiches aufgebaut bleiben. Wenn die Gemeinden sich auf längeren Bestand einrichten wollten, dann mußten sie aufhören, von ihren Angehörigen Enthaltung von jeglicher Arbeit und beschauliches, nur der Vorbereitung auf das Gottesreich gewidmetes Leben zu fordern. Sie mußten es nicht nur dulden, daß die Brüder im Erwerbsleben verblieben, sie mußten es geradezu verlangen, weil sie anders die Existenzbedingungen des Christentums vernichtet hätten. Es begann der Prozeß der Anpassung der Kirche an die Gesellschaftsordnung des römischen Reiches, der bald dazu führte, daß das Christentum, das von der vollständigen Gleichgültigkeit gegenüber allen sozialen Verhältnissen ausgegangen war, die Gesellschaftsordnung des sinkenden Römerreiches geradezu kanonisierte.
Nur mit Unrecht hat man von Soziallehren des Urchristentums gesprochen. Der geschichtliche Christus und seine Lehren, so wie sie in den ältesten Denkmälern des Neuen Testaments dargestellt werden, sind allem Gesellschaftlichem überhaupt völlig gleichgültig gegenüber gestanden. Sie haben wohl schärfste Kritik am Bestehenden geübt, doch sie haben es nicht der Mühe wert erachtet, sich um die Verbesserung der getadelten Zustände irgendwie zu bekümmern, ja darüber auch nur nachzudenken. Das alles ist Gottes Sache, der sein Reich, dessen Kommen unmittelbar bevorsteht, schon selbst in aller Herrlichkeit und Fehlerlosigkeit aufrichten wird. Wie dieses Reich aussehen wird, weiß man nicht, aber man weiß sehr genau, daß man darin sorglos leben wird. Jesus unterläßt es, darauf allzu genau einzugehen. Das war auch gar nicht nötig, denn darüber, daß es im Gottesreich herrlich sein wird zu leben, bestand bei den Juden seiner Zeit kein Zweifel. Die Propheten hatten es verkündet, und ihre Worte lebten im Bewußtsein des Volkes fort, bildeten den wesentlichsten Inhalt seines religiösen Denkens.
Die Erwartung einer alsbald durch Gott selbst vorzunehmenden Neuordnung aller Dinge, die ausschließliche Einstellung alles Tuns und Denkens auf das künftige Gottesreich macht die Lehre Jesu zu einer durchaus negativen. Er verneint alles Bestehende, ohne etwas anderes an seine Stelle zu setzen. Alle bestehenden gesellschaftlichen Bindungen will er lösen. Nicht nur nicht für seinen Unterhalt sorgen soll sein Jünger, nicht nur nicht arbeiten und sich aller Habe entäußern; er soll auch Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, ja sein eigenes Leben hassen. Die Duldung, die Jesus den weltlichen Gesetzen des römischen Reiches und den Vorschriften des jüdischen Gesetzes wider- fahren läßt, ist von Gleichgültigkeit und von Geringschätzung ihrer Bedeutung, die doch nur eine zeitlich eng beschränkte sein könne, getragen, nicht aber von der Anerkennung ihres Wertes. In dem Eifer der Zerstörung aller bestehenden gesellschaftlichen Bindungen kennt er keine Grenzen. Die Reinheit und die Kraft dieser vollständigen Negation wird von ekstatischer Inspiration, von begeistertem Hoffen auf eine neue Welt getragen. Daraus schöpft sie die Leidenschaft, mit der sie alles Bestehende angreift. Sie kann alles zerstören, weil die Bausteine der künftigen Ordnung von Gott in seiner Allmacht ganz neu gefügt werden sollen. Sie braucht nicht danach zu forschen, ob man irgend etwas vom Bestehenden hinübernehmen könnte in das neue Reich, weil dieses ohne menschliches Zutun erstehen wird. Sie fordert daher vom Anhänger keinerlei Ethik, kein bestimmtes Verhalten in positiver Richtung. Der Glaube allein und nichts als der Glaube, die Hoffnung, die Erwartung, das ist alles, was er seinerseits zu leisten hat. Zum positiven Aufbau der Zukunft hat er nichts beizutragen, das wird Gott schon allein besorgen. Am klarsten wird dieser auf die vollkommene Verneinung des Bestehenden beschränkte Charakter der urchristlichen Lehre durch den Vergleich mit dem Bolschewismus. Auch die Bolschewiken wollen alles Bestehende zerstören, weil sie es für hoffnungslos schlecht halten. Doch sie haben, wenn auch sehr undeutlich und voll logischer Widersprüche, ein bestimmtes Bild einer künftigen Gesellschaftsordnung im Kopfe; sie stellen an ihre Anhänger nicht nur das Ansinnen, alles, was ist, zu vernichten; sie fordern darüber hinaus auch ein bestimmtes Verhalten, wie es dem von ihnen erträumten Zukunftsreich entspricht. Die Lehre Jesu aber ist nur verneinend.
Gerade der Umstand, daß Jesus kein Sozialreformer war, daß seine Lehren frei von jeder für das irdische Leben anwendbaren Moral sind, daß alles, was er seinen Jüngern empfiehlt, nur Sinn hat, wenn man mit umgürteten Lenden und brennenden Lichtern den Herrn erwartet, um ihm alsbald zu öffnen, wenn er kommt und anklopft, hat das Christentum befähigt, den Siegeslauf durch die Welt anzutreten. Nur weil es vollkommen asozial und amoralisch ist, konnte es durch die Jahrhunderte schreiten, ohne von den gewaltigen Umwälzungen des gesellschaftlichen Lebens vernichtet zu werden. Nur so konnte es die Religion römischer Kaiser und angelsächsischer Unternehmer, afrikanischer Neger und europäischer Germanen, mittelalterlicher Feudalherren und moderner Industriearbeiter sein. Weil es nichts enthält, was es an eine bestimmte Sozialordnung gebunden hätte, weil es zeitlos und parteilos ist, konnte jede Zeit und jede Partei daraus das verwerten, was sie wollte.
(aus: Ludwig von Mises, Gemeinwirtschaft, Jena 1922, 403-407) 

Heavy stuff für die Ohren eines Gläubigen, ich weiß, und in mancher Formulierung mit seiner kühlen Objektivität des Ausdrucks (z.B. »asozial und amoralisch«) fast mißverständlich, jedenfalls prima vista anstößig! Und dennoch: ich kenne nicht viele Darlegungen über die Beziehung von Christentum und Ethik, die auch nur annähernd so sachkundig und klar die Problematik herausarbeiten, mit der sich das Christentum seit dem Vergehen der enthusiastischen Frühzeit ständig konfrontiert sieht, und an der sie sich mit wechselndem, doch letztlich nie vollendetem Erfolg abarbeitet.

2 Kommentare:

  1. "Prima vista anstössig"? Eigentlich nicht. Wenn man bedenkt, dass der Schriftsteller die Lehre Jesu und der Kirche von einem völlig a-theistischen Standpunkt her betrachtet, dann ist an diesem Text überhaupt nichts auszusetzen.
    Im Gegensatz dazu ist ein Grossteil der modernen, bzw. modischen "christlichen" Katechese wesentlich anstössiger, wo sich aufgrund der gutgläubigen Annahme eines christgläubigen Fundaments ein starkes Zersetzungspotential ungehemmt entfalten kann.

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  2. @Thysus:

    Eigentlich schon. Ihre Kritik an »der modernen, bzw. modischen "christlichen" Katechese« ist durchaus zu teilen — aber die Lehre Christi einfach als »asozial und amoralisch« zu bezeichnen, ist prima vista anstößig. Dem werden nur geeichte Atheisten widersprechen (die aber eine kleine Minderheit darstellen, und daher bei einer allgemeinen Betrachtung auße Ansatz bleiben).

    Wer den Text sorgfältig und im Gesamtzusammenhang liest, wird erkennen, wie Mises diese Ausdrücke meint, und sie dann eben nicht mehr notwendig als anstößig empfinden. Hier wäre m.E. Mises gut beraten gewesen, den Text etwas klarer zu gestalten. Denn "amoralisch" ist eben nicht bloß eine wissenschaftlich-neutrale Bezeichnung, sondern eben (auch) ein — stark negativ konnotiertes! — Werturteil.

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