Mittwoch, 12. März 2014

Mises-Lektüre VII: Klassengesellschaft und Kapitalismus

Es ist durchaus üblich, die Unternehmer und Kapitalisten der Marktwirtschaft mit den Aristokraten einer Klassen-Gesellschaft zu vergleichen. Die Basis dieses Vergleichs liegt in dem relativen Reichtum beider Gruppen, verglichen mit der verhältnismäßig beschränkten wirtschaftlichen Lage ihrer übrigen Mitmenschen. Wenn man jedoch auf diesen Vergleich zurückgreift, so versäumt man, sich den grund-legenden Unterschied zwischen dem aristokratischen und dem „bürgerlichen“ oder kapitalistischen Reichtum zu vergegenwärtigen.
Der Reichtum eines Aristokraten ist nicht das Phänomen einer Marktwirtschaft; er nimmt seinen Ursprung nicht aus der Versorgung der Verbraucher und kann nicht durch irgendwelche Handlungen von seiten der Allgemeinheit beeinflußt – geschweige denn entzogen – werden. Er rührt von Er- oberungen her oder von Schenkungen von seiten eines Eroberers. Er kann wieder entzogen werden durch einen Widerruf von seiten des Gebers oder durch gewaltsame Austreibung durch einen anderen Eroberer, oder er kann durch Extravaganzen verschwendet werden. Der Lehnsherr dient nicht den Konsumenten und ist gegen die Mißbilligung der Bevölkerung immun.
Die Unternehmer und Kapitalisten dagegen verdanken ihren Reichtum den Leuten, die die von ihnen produzierten Waren kaufen. Sie verlieren ihn zwangsläufig, sobald andere Unternehmer an ihre Stelle treten, die die Verbraucher besser und billiger versorgen.
Es ist nicht die Aufgabe dieser Abhandlung, die historischen Bedingungen zu beschreiben, die für die Entstehung der Institution der Kasten und Stände, der Gliederung der Menschen in erbliche Gruppen von verschiedenem Rang, Rechten, Ansprüchen und rechtlich gebilligten Privilegien oder Benachteili-gungen verantwortlich sind. Was für uns von alleiniger Bedeutung ist, ist die Tatsache, daß die Erhaltung dieser Lehnseinrichtungen mit dem kapitalistischen System unvereinbar war. Ihre Abschaffung und die Errichtung des Prinzips der Gleichheit vor dem Recht hat die Schranken beseitigt, die die Menschheit daran hinderten, alle Vorzüge, die das System des privaten Eigentums der Produktionsmittel und des Privatunternehmens ermöglicht, zu genießen.
In einer Gesellschaft, die auf Stand oder Kaste begründet ist, ist die Lebensposition eines Individuums festgelegt. Der Mensch ist in einen bestimmten Lebenskreis hineingeboren, und seine Stellung in der Gesellschaft ist streng festgelegt durch die Gesetze und Gewohnheiten, die jedem Mitglied seines Standes bestimmte Privilegien und Pflichten oder bestimmte Benachteiligungen zuweisen. Außer-gewöhnliches Glück oder Pech können in einigen seltenen Fällen ein Individuum in einen höheren Stand erheben oder zu einem niedrigeren Stand reduzieren. Jedoch können sich in der Regel die Lebensbedingungen der einzelnen Mitglieder einer bestimmten Kaste nur dann verbessern oder verschlechtern, wenn sich die Lebensbedingungen der gesamten Kaste ändern. Das Individuum ist in erster Linie nicht der Bürger einer Nation; jeder Mensch ist das Mitglied eines Standes und gehört nur als solcher indirekt der Gesamtheit der Nation an. Kommt er mit einem Landsmann zusammen, der zu einer anderen Klasse gehört, so fühlt er keine Gemeinschaft. Er empfindet nur die Kluft, die ihn von dem Stand des anderen Menschen trennt. Diese Verschiedenheit spiegelt sich in Sprach- wie auch in Kleidungsgewohnheiten. Während des „ancien regime“ sprachen die europäischen Aristokraten vorzugsweise Französisch, der dritte Stand bediente sich der Landessprache, während die niedrigeren Klassen der Stadtbevölkerung und die Bauern an dem örtlichen Dialekt, an ihren Redensarten und am „slang“ festhielten, die für die Gebildeten oft unverständlich waren. Die verschiedenen Klassen kleideten sich auf verschiedene Art. Niemand konnte verfehlen, den Rang eines Fremden zu erkennen, der ihm zufällig begegnete.
Die Hauptkritik der Verteidiger der „guten alten Zeit“, die sich gegen das Prinzip der Gleichheit vor dem Recht richtet, besteht darin, daß es die Privilegien der Ränge und der höheren Stände beseitigt hat. Es hat, so sagt man, die Gesellschaft „atomisert“ und die „organische“ Unterteilung in „unge-formte“ Massen aufgelöst. Die „zu Vielen“ nehmen nur eine Vorzugsstellung ein, und ihr niedriger Materialismus hat die edlen Maßstäbe vergangener Zeiten verdrängt. König ist das Geld. Vollständig wertlose Menschen genießen Reichtum und Fülle, während verdienstvolle und wertvolle Menschen leer ausgehen.
Diese Kritik setzt stillschweigend voraus, daß die Aristokraten während des „ancien regime“ sich durch ihre Tugenden auszeichneten und daß sie ihren Rang und ihr Einkommen ihrer sittlichen und kulturellen Überlegenheit verdankten. Es ist kaum notwendig, diese Fabel zurückzuweisen. Ohne ein Werturteil zu fällen, müssen Historiker betonen, daß die Hocharistokratie der wichtigsten europä-ischen Länder von jenen Soldaten, Höflingen und Kurtisanen abstammt, die in den religiösen und konstitutionellen Kämpfen des 16. und 17. Jahrhunderts geschickt die Seite der Partei ergriffen, die schließlich in dem betreffenden Lande siegte.
Während die Konservativen und die „progressiven“ Gegner des Kapitalismus in der Beurteilung der alten Wertmaßstäbe nicht übereinstimmen, so sind sie doch vollkommen einig in der Verdammung der Wertmaßstäbe der kapitalistischen Gesellschaft. Ihrer Ansicht nach wird der Reichtum und das Prestige nicht von jenen erworben, die es verdienen, sondern von nichtigen und wertlosen Menschen. Beide Gruppen geben vor, die augenscheinlich ungerechten Verteilungsmethoden, wie sie in dem laissez faire-Kapitalismus vorherrschen, durch gerechtere Methoden ersetzen zu wollen.

(Ludwig von Mises, Die Wurzeln des Antikapitalismus, pp. 13-16)

2 Kommentare:

  1. Schön, daß Sie von Mises so viele Einträge widmen. Leider gibt es so gut wie keine Reaktionen, was mir allerdings irgendwie sehr bekannt vorkommt....

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  2. "Qui tacet consentire videtur"

    Offenbar stimmen alle Leser zu ;-)

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