Donnerstag, 15. September 2016

Heute vor neunzig Jahren

... also am 15. September 1926, starb der deutsche Philosoph und Literatur-Nobelpreis-Träger (1908) Rudolf Eucken

Er ist heute nahezu vergessen, bestenfalls weiß man noch, daß Max Scheler zu seinen Schülern zählte. Und daß ein Philosoph einen Literaturpreis erringt, das ist ja auch irgendwie seltsam ...

Ist diese Vergessenheit, in die Rudolf Eucken sank, nun berechtigt oder nicht? am ehestens kann man das durch persönliche Lektüre feststellen, und dankenswerterweise gibt es ein Werk, noch dazu aus dem "Preisjahr" 1908, mit dem durchaus anspruchsvollen Titel:

Der Sinn und Wert des Lebens
Wer heute die Frage aufnimmt, ob das menschliche Leben einen Sinn und Wert hat, der kann nicht zweifelhaft darüber sein, daß es hier nicht einen vorhandenen Besitz zu beschreiben, sondern eine Aufgabe zu bezeichnen gilt, eine Aufgabe, die für uns nicht gelöst ist, auf deren Lösung sich aber unmöglich verzichten läßt. Daß der heutige Lebensstand uns hier keine sichere und freudige Bejahung zuführt, das wird genauer zu zeigen sein; daß wir das Suchen danach nicht einstellen können, ist ohne viel Erörterung klar. Das Leben stellt uns Menschen unter mannigfache Eindrücke und Aufgaben, sie bilden nicht unmittelbar eine Einheit, es hebt sich nicht leicht und sicher aus ihrer Fülle ein leitendes Ziel hervor. Dabei ist das Leben keineswegs eitel Freude und Genuß, es kostet Mühe und Arbeit, es fordert Entsagung und Opfer; die Frage erwacht, ob sich solche Mühe und Arbeit auch lohne, ob der Gewinn des Ganzen alle Gefahren und Verluste im einzelnen aufwiege und eine Bejahung rechtfertige. Das ist kein Problem der bloßen Theorie; das Leben selbst kann seine Höhe erst erreichen, wenn es sich eines bedeutenden Gesamtzieles sicher weiß, und wenn von da aus Spannung und Lust in jede einzelne Betätigung strömt.

Nun gibt es Zeiten, wo die Frage schlummert, weil Überlieferung und Gemeinschaft dem Streben eine sichere Richtung geben und keinerlei Zweifel an den dargebotenen Zielen aufkommen lassen. Erwacht aber einmal der Zweifel, ein Zweifel über das Ganze, so greift er leicht wie ein verheerendes Feuer um sich, die Frage verwickelt sich um so mehr, je mehr wir über sie grübeln; wir finden uns an der Grenze unseres Vermögens, wenn wir erwiesen haben möchten, daß unser Leben bei aller Verworrenheit des ersten Anblicks schließlich einen Sinn und Wert besitzt und sich von da aus zuversichtlich bejahen läßt. Unter der Macht solches Zweifels steht unsere eigne Zeit. Ihre Schwäche an dieser Stelle verrät schon der Umstand, daß sie inmitten staunenswerter Leistungen und unaufhörlicher Fortschritte kein rechtes Glücksgefühl in sich trägt, daß der Mensch als Ganzes sich keineswegs sicher und geborgen weiß, daß er sich selbst herabzusetzen und von seiner Stellung im All gering zu denken geneigt ist. Bei näherem Zusehen finden wir viel Streben nach Einheit des Lebens, aber wir finden zugleich, daß dies Streben sich bei sich selbst bis zu vollem Gegensatze entzweit: grundverschiedene Synthesen und Typen des Lebens bieten sich dar und umwerben den Menschen. Aber indem keine von ihnen siegreich und sicher die anderen bewältigt, spalten widerstreitende Wirkungen und Schätzungen die Menschheit; was dem einen ein hohes Gut, das dünkt dem andern ein lästiges Übel, und der eine weiß nicht hart genug zu verdammen, was den andern entzückt und begeistert. So ergibt sich bei überströmendem Reichtum im Einzelnen eine peinliche Armut im Ganzen, auch ein völliges Unsicherwerden über das Ziel und die Art unseres Weges. Solche Lage treibt zwingend die Frage hervor, ob sich gegenüber aller Verdunklung, Verwirrung, Verneinung ein Sinn und Wert des Lebens erringen lasse, ob alle Widersprüche schließlich einer Einheit weichen, die das Ja dem Nein überlegen macht.
(Hier weiterlesen)

Interessant ist der Vergleich mit der geänderten Fassung vom März 1914, der in den ersten Absätzen schon zutage tritt. Schwungvoller tritt der Autor an die Fragen, weniger "professoral" ist der Stil. Aber ... "Literaturnobelpreis"? Doch die Geschichte dieses Preises ist wie kaum eine andere in unauflösbare Rätsel verstrickt: Eucken wurde von König Oskar II von Schweden geschätzt, in die Schwedische Akademie der Wissenschaften aufgenommen etc. Hier war also der Nobelpreis 
„... auf Grund des ernsten Suchens nach Wahrheit, der durchdringenden Gedankenkraft und des Weitblicks, der Wärme und Kraft der Darstellung, womit er in zahlreichen Arbeiten eine ideale Weltanschauung vertreten und entwickelt hat“
offenbar die glanzvolle Vollendung eines schon länger dauernden cursus honorum ... und außerdem galt er als Kompromißkandidat zwischen Selma Lagerlöf und Algernon Swinburne, die beide jeweils keine Mehrheit in der Akademie fanden.

In Deutschland waren die Ehrungen bescheidener:
Am 5. Januar 1916 – Euckens siebzigstem Geburtstag – wurde er zum Ehrenbürger der Stadt Jena ernannt. Als Begründung wurde genannt, dass er als Professor der Universität Jena 41 Jahre lang „als Zierde der Hochschule zum Ruhme der Stadt“ beigetragen habe.
Zu Lebzeiten geringgeschätzt, durch Zufälle doch zu Bedeutung gelangt, von der Nachwelt vergessen: das sind (sarkastisch formuliert) die historisch-biographischen Zutaten vieler Gedenkartikel auf diesem Blog. Und sie zeigen: nichts ist zufälliger als der Erfolg, nichts wankelmütiger als das Gedächtnis.

„Alle echte Philosophie ist ein Ringen des Ganzen einer Persönlichkeit mit dem Ganzen des Alls“, schrieb der Philosoph Rudolf Eucken. Daran sollte man ihn messen, nicht an Ehrenbürgerschaften, Straßennamen oder auch Nobelpreisen ...

 

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