Sonntag, 29. Mai 2016

Interpretationssache

Nein, nicht die Auswertung der Wahlkartenstimmen bei den letzten Wahlen ist gemeint. Sondern Musik. Klassische Musik, natürlich!

Ausgangspunkt ist ein mir jüngst ins Ohr gekrochener Wurm namens »Beethoven, Rondo in G-Dur, op. 51 Nr. 2«, auf den ganz en passant in meinem Gedenkartikel für Wilhelm Kempff verlinkt wurde, und der mir seither nicht aus dem Ohr und/oder Hirn geht ...

Es ist ein charmantes, frühes Werk von Beethoven, 1797 komponiert, als die großen Werke noch meist in seiner Zukunft verborgen lagen (nun ja, einiges von Weltgeltung und Ewigkeitsrang hatte er da doch schon veröffentlicht, aber die majestätischen Gipfel seines Genies waren unstreitig noch unerstiegen). Und doch (der »Pianist LePenseur« weiß es mit selbstironischem Augenzwinkern zu bestätigen!) ist dieses scheinbare Nebenwerk in Beethovens Oeuvre höchst diffizil zu spielen und nur mit einem gerüttelt Maß an Können und nachschaffender Einfühlung befriedigend zu interpretieren. Beethoven hat dieses Rondo ja mal ziemlich leichtgewichtig und frei hingetupft, mal mit kräftigem Pinselstrich virtuos ausgemalt, sodaß es überaus schwierig ist, hier immer den richtigen Ton zu treffen (bei den schnellen Läufen, wenigstens für »Pianisten« wie mich, auch bereits im wörtlichen Sinne ...).

Doch beginnen wir jetzt einfach mit einem Weltklasse-Pianisten wie Swjatoslaw Richter (dessen Youtube-Video dankenswerterweise das Notenbild zeigt, und so die Schwierigkeit des kurzen Stücks augenfällig demonstriert):


Eine ohne jeden Zweifel beeindruckende Interpretation; kühn und völlig  frei in der Gestaltung dahinschweifend, wenn auch mit einigen minimalen (wie Euripides »auf Knien zu tandelnden«!) Unschärfen, die den vollendeten Genuß ein wenig trüben, z.B. die wohl unbeabsichtigte Temposchwankung gleich in Takt 2, und die etwas gehackt genommenen Staccati in Takt 3 (und, gemildert, auch später im Stück), und noch manch anderes. Vergleichen wir die — quasi »romantische« — Interpretation mit der eines japanischen Meisterpianisten, Mitsuru Nagai (*1934), der aus demselben Werk keinen Vorgriff auf die kommende Romantik, sondern quasi einen etwas rebellisch geratenen, späten Haydn gestaltet, dann weiß man um den Ambitus an (in beiden Fällen durchaus »werktreuer«) Interpretationsmöglichkeit:


Ganz anders wieder die fast meditiv zu nennende (und auch mit 11 Minuten die mit Abstand längste!) Interpretation des chilenischen Altmeisters Claudio Arrau, die neben ihrem meditativen Charakter auch durch geradezu gemeißelte Klarheit besticht:


Von einem anderen, ebenfalls insbes. als Beethoven-Spezialist geltenden Pianisten, Hugo Steurer, gibt es von diesem Rondo ebenfalls eine bemerkenswerte Aufnahme (die einem natürlich nach Arrau fast ein wenig »gehudelt« vorkommt; aber das täuscht, denn Steurer braucht auf die Sekunde gleich lang wie Kempff, nämlich 8:53 min.):


Und hier sind wir wieder bei Wilhelm Kempff gelandet, der das Stück gleich mehrmals (z.B. hier) aufgenommen hat, und dessen Live-Videoaufnahme für den Kanadischen Rundfunk mir trotz einiger minimaler Flüchtigkeiten davon trotzdem in ihrer beschwingten Leichtigkeit am besten gefällt:


Ist das nun die »richtige« Interpretation? Gibt es überhaupt eine, außer die, die wir uns je zwischen unseren Ohren in unseren Hirnen konstruieren? Ich lasse die Frage offen, muß sie offen lassen, da sie mir wenigstens nach Anhören der folgenden, und einfach »Vollendung atmenden« Aufnahme von Alfred Brendel schlicht unbeantwortbar erscheint:


Und bevor es mir geht wie der Gräfin Madeleine in »Capriccio«, und ich einen Schluß suche, der nicht trivial ist, trete ich jetzt auf als Haushofmeister und verkünde: »Frau Gräfin, das Souper ist serviert«.


1 Kommentar:

  1. Man kennt das: es gibt immer wieder Stücke, die haben eine solche persönliche Bedeutung, dass man sie erforschen muss, sich nicht daran satthören kann und anschließend immer wieder sucht, was ein anderer daraus hört, was ein anderer daraus macht. Manchmal können es Petitessen, manchmal Bagatellen sein. Ich gebe offenherzig zu: dieses Rondo habe ich bisher – bis zu Ihrer Erwähnung im letzten Beitrag – eher vernachlässigt. Und wie es so oft ist: wenn man dann die Facetten hört, merkt man, wie Unrecht man bisher einer Sache getan hat, und mag es nur aufgrund langjähriger Vergessenheit sein.

    Im Nachhinein fällt mir jene Verspieltheit auf, die auch die populäre „Wut über den verlorenen Groschen“ enthält, die vom Entstehungszeitraum nahe dran liegt; einzig, letzteres Rondo klingt natürlich deutlich rabiater, während wir hier stellenweise jene Innigkeit und Erhabenheit heraushören, die man auch bei Beethovens langsamen Klaviersätzen antrifft; unterbrochen immer wieder vom virtuosen Einschlag. Sehr treffende Beschreibungen im Übrigen; mir ging es nach Arrau plötzlich zu schnell, da er eher ersteres Element betont.

    Zuletzt geht es mir wie Ihnen. Allerdings auch, weil ich vermutlich an jener Krankheit leide, die oftmals bekannteste, „eigene“ Version am besten zu kennen und „im Ohr“ zu haben (bei mir ebenfalls Kempff). Vielen Dank für die Kollektion!

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